Sturzdämmernd: Premiere von Hans Werner Henzes THE BASSARIDS an der Komischen Oper

Hütet euch, Söhne, wenn die Mütter tanzen gehen!

Wo steckt Henze? Im Berliner Konzert- und Opernleben der letzten Jahre war er jedenfalls kaum mehr zu entdecken. Jetzt aber haben sich an der Komischen Oper Berlin zwei Musiktheater-Babos (um mal wieder diesen schönen Begriff eines bekannten Rappers namens Strafzettel zu zitieren) die Oper The Bassarids von Hans Werner Henze vorgeknöpft: Barrie Kosky inszeniert – ein bisschen. Vladimir Jurowski dirigiert – immens.

Der Orchestergraben mit Streichern und Schlägern und Harfenzupfern ist hochgerutscht, wir sehen den weißbehemdeten Dirigenten von der Gürtellinie an aufwärts, die Bläser sind sogar auf der Bühne platziert. Diese Bühnenbemächtigung passt gut zur rasant aus den Fugen geratenden Welt von Theben, die Euripides in seinen grausigen Bakchen schildert, der Vorlage des Librettos von W.H. Auden und Chester Kallman. (Und schon haben wir gelernt, dass Bakchen vulgo Bacchantinnen und Bassariden und Mänaden alles das Gleiche bedeutet. Nur Bildungsprötze sagen Klodonen oder Mimallonen!)

Es symbolisiert aber auch ganz gut das Arbeitspensum von Musik und Regie. Denn seien wir ehrlich, Barrie Kosky reißt sich hier – anders als die Bacchantinnen dem König Pentheus und bei anderer Gelegenheit auch dem Orpheus – kein Bein aus. Die typischen, vielfach bewährten Kosky-Bausteine sind Einheitsbühnenbild und Gender-Fluidity, will heißen zappelnde Männer in Frauenkleidern (seltener zappelnde Frauen in Männerkleidern). Dennoch flutscht die reduzierte Inszenierung auch dank ihrer raffinierten Personenführung flutschiger als so manche, die ein Regisseur bis zur Schnappatmung rauf und runtermalocht. Zwischen dem links sitzenden Blech und dem rechts sitzenden Holz führt eine breite, hohe Treppe zu einem schmalen Spalt, aus der der Chor furchteinflößend herausströmen kann, um die Herrschaft der Vernunft in Theben fortzuschwemmen und die Triebe zu entfesseln: Day, hide! Denn Altgriechisch ist hier Englisch, und Dionysos verzückt die Menschen, um rachehalber das thebanische Königshaus auszulöschen. Die fast abstrakte Einrichtung der Bühne, alles in durchgehend tagheller Beleuchtung, ist nicht gerade ein Feuerwerk der Phantasie, so wie auch die Choreographie der königzerfetzenden Bacchantinnen (eminent austrainiertes Tanzensemble) erwartungsgemäß STOMP-ekstatisch wirkt: sexy, aber ginge auch im Stage Theater am Potsdamer Platz.

Es ist jedoch hinreichend zweckdienlich, um die Wucht von Henzes Musikdrama (und durch dieses vermittelt von Euripides‘ Tragödie) gnadenlos übers Publikum kommen zu lassen. Als eigentliche Hauptfigur ist hier der von David Cavelius einstudierte Chor zu nennen, mit Chorsolisten der Komischen Oper und dem grandiosen Vocalconsort Berlin: Dieser Chor pendelt zwischen schunkeliger Sehnsucht und krasser Gewalt – brave Bürger und vor allem Bürgerinnen, die in fröhlicher Verzückung zu lullenden Children einer antiken Manson Family werden. Und natürlich denkt jeder hier an faschistische Verführungen aller Arten, ohne dass das aufdringlich expliziert werden müsste. Zugleich erleben wir den Clash von regelnder, verriegelnder Vernunft und regelloser, entriegelnder Triebexplosion: ein explosiver Gegensatz, den man noch vor einigen Jahren für weitgehend aufgelöst hätte halten können. Jetzt aber wirkt das überhaupt nicht mehr wie ein Privatproblem von Henze.

Extreme von Badeschaum-Süßlichkeit und brutalem Exzess kennzeichnen Henzes außerordentlich packende Musik: Zuerst stoßen sie unvermittelt aufeinander, dann verschmelzen sie miteinander, und – es ist der nackte Schrecken. Diese Musik braucht kein darmstadt-chichiges Theoriegerüst, sondern knallt theatralisch. Vladimir Jurowski organisiert sie höchst kompetent und in der gebotenen Heftigkeit, ohne dass es in der begrenzten akustischen Kapazität der Komischen Oper zu einem Dauerschmerz führen würde. Es tut da weh, wo es wehtun soll. Schon zu Beginn des Dramas nehmen einen Trompeten von beiden Seiten des Rangs hoch oben in die Mangel. Und dann spult eine erstaunlich straighte Handlung ab (über die Verwandtschaftsverhältnisse im thebanischen Königshaus sollte man sich dennoch vorbereitungshalber informiert haben) – inmitten eines dichten, geradezu rauschhaften Flechtwerks von Klang.

Ein Flechtwerk, in dem es dann immer wieder zu konzentriert ausgedünnten Konfrontationen kommt, die den Atem stocken lassen: Nur tiefe Streicher sind zu hören, wenn der junge, den Massenrausch bekämpfende König Pentheus auf seinen gebeugten Großvater Kadmos trifft, der das ganze Unheil kommen sieht. Ein Fagott, dann auch weiteres Holz und Vibraphon und Harfe, wenn Pentheus seiner Mutter Agave begegnet, die ihn später im unaufhaltbaren dionysischen Wahn einen Kopf kürzer machen wird. Eine Harfe, wenn Pentheus seinem Antagonisten Dionysos begegnet, der sich noch nicht zu erkennen gibt. Und ein einzelnes Fagott, wenn der Körper des Königs kurz vor dem zerstückelnden Ultimo sich selbst trifft: This flesh is me. Als aber die Königsmutter erkennt, dass sie keineswegs das Haupt eines Löwen in der Hand trägt, sondern die Fetzen ihres Sohns in einer Plastiktüte, wird die Bedauernswerte am Lauf einer Bassklarinette in ein überwältigend komplexes All aus Chören und Ensembles geschleudert.

Günter Papendell macht mit vergeblich sich panzerndem Bariton den König Pentheus zu einer großen Gestalt der Verzweiflung der Vernunft: I am Pentheus, King of Thebes, lautet sein Mantra, aber seine Stimme kriegt konzis das Abwärtsflattern, wenn er, während im Hintergrund die Volksmasse bedrohlich entrückt, mit seiner treuen Amme Beroe (Margarita Nekrasova) im Vordergrund zittert. Seine dionysischen Dienerinnen aber lässt er, alles im Dienst der Vernunft, hinter der Bühne erschießen.

Die Rolle von Pentheus‘ großem Antipoden enthält Verheißungen, die mit einem normalmenschlichen Tenor kaum einlösbar sind: Die Stimme des Dionysos kitzelt ja direkt den G-Punkt der Königinmutter Agave und ihrer Schwester Autonoe (Vera-Loitte Boecker). Henzes Dionysos ist doch ein anderes Kaliber als der Nerv-Bacchus aus der Ariadne auf Naxos. Sean Panikkar singt diesen Dionysos mit starker Präsenz, wenn auch nicht übermäßig charismatisch. Für die göttliche Aura hat aber Henze schon gesorgt, indem er sie im Orchester spiegelt und in den Chören widerhallen lässt. Das Duell von Pentheus und Dionysos ist also derart aufregend, dass Kosky im Schlussjubel sehr zurecht Papendell und Panikkar noch einmal nach vorne schiebt. Nur dass er unbedingt auch Tanja Ariane Baumgartner hätte dazuschieben sollen, deren Mezzosopran die wohl größte, schönste Stimme des Abends ist. Denn sie hat die Königinmutter und unfreiwillige Sohnesmörderin Agave zur anfangs komischsten, dann berührendsten Figur in diesem ungeheuerlichen Drama gemacht.

Zweieinhalb Stunden dauert das. Es ist ein Rausch, es ist ein Drama, und es ist wahnsinnig spannend. Gespielt wird eine Art Mischfassung von The Bassarids: Obwohl das Original 1966 in Salzburg als Die Bassariden auf Deutsch erklang, scheint die Verwendung der revidierten englischen Fassung von 1992 sinnvoll. Denn erstens war die Urfassung noch gigantischer besetzt, das würde dann wirklich das Haus sprengen. Vor allem aber hatte Henze Audens englischen Text komponiert und erst für die Uraufführung (wohl mehr schlecht als recht) übersetzen lassen. Das Englische aber dröhnt hier wahrlich, als wärs Altgriechisch. Ein putziges Intermezzo hingegen, das Henze 1992 strich, hat man aus dem Original übernommen und eigens nach-entschlackt: eine Art neobarockes Satyrspiel, hier wie ein Irrsinns-Sirtaki inszeniert. Kosky hat nicht unrecht, wenn er dieses Zwischenspiel eine amüsante Bereicherung nennt. Aber es fremdelt doch ziemlich in dieser ansonsten grauenhaft geradlinigen Sturzdämmerung des Königs und der Vernunft in den Untergang.

Wo ist Henze? In Berlin wieder am 17. und 20. Oktober, 2., 5. und 10. November sowie am 26. Juni 2020.

Nachtrag vom 2. November:  „Anathema“, englisch ausgerufen! Nochmal bei Hans Werner Henzes krasser Mänaden-Oper THE BARRARIDS an der Komische Oper Berlin gewesen: und gefunden, dass sich das wirklich, wirklich lohnt. Die straighte dramatische Stringenz springt einen noch stärker an als beim ersten Besuch, wo man gut beschäftigt ist, diese vertrackte thebanische Königshaus-Genealogie aufzudröseln. Süßliche Verführung und drastische Gewalt, Euripides fürs (einund)zwanzigste Jahrhundert. Furchteinflößend verkörpert Sean Panikkar die entsetzliche Rachsucht des Dionysos, der hier immerhin seinen leibhaftigen Cousin auszulöschen trachtet und die Familie des gemeinsamen Großvaters Kadmos gleich mit. Wie überhaupt alle sängerdarstellerischen Leistungen bravourös sind. Neben den umwerfenden Günter Papendell und Tanja Ariane Baumgartner haben mich diesmal besonders Jens Larsen und Margarita Nekrasova beeindruckt. Barrie Koskys hochprofessionelle Sparefroh-Regie (mit Einheitsbühne und Einheitsausleuchtung) ist gewiss die Gegenfinanzierung für den riesigen personellen Aufwand der Musik, für die Vladimir Jurowski Großartiges leistet. Lustig übrigens, dass einer der zehn bakchantischen Tänzer(innen) Jurowski sehr ähnelt. Nur dieses neobarocke Intermezzo mitten im sturzdämmernden Drama: Ja, musikalisch reizvoll und verständlich, dass man das nicht opfern will – aber es nimmt dem Abend ein wenig von seiner konsequenten Wirkung. Und ganz praktisch, wenn man Henze an den Mann und die Frau bringen will: Vielleicht ist das einfach das halbe Stündchen zu viel. Dennoch, was für ein Werk. Vorerst letzte Gelegenheiten am 5. und 10. November; dann nochmal am 26. Juni.

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3 Gedanken zu „Sturzdämmernd: Premiere von Hans Werner Henzes THE BASSARIDS an der Komischen Oper

    • Ja, „Moses & Aron“ war sehr beeindruckend damals. Die Oper lebt ja auch von so einem Gegensatzpaar (Gedanke vs Bild) wie The Bassarids (Vernunft vs Trieb), aber bei Henze ist es natürlich griffiger. Vielleicht auch fragwürdiger. Bin mir nicht sicher, was ich von diesem „Trieb gegen Vernunft“ halten soll.

      Hab es gerade mal im alten Blog gefunden (und mich gefragt, ob der doch besser lesbar war als dieser hier).

      • Mich hat der Hintergrund Vernunft-Entfesselung beim Hören kaum beschäftigt, erst nachts beim Schreiben. Das Angenehme der Inszenierung ist eben der Verzicht auf Drastik und fingerzeigenden Gegenwartsbezug.
        Hab mir schon die Karte besorgt, um Bassariden ein 2. Mal zu hören.
        Sehr schade, dass man an der KO solche Sachen wie Moses + Aaron nicht mehr reaktiviert.
        Die Lesbarkeit steht immer im Bezug zum Stoff (sag ich jetzt klugscheißerisch). Der alte Haudegen Schönberg hat vermutlich die klarere Musik geschrieben als der (mittel)junge Henze.
        Interessant, Sie waren damals schon von Jurowski überzeugt. Feines Näschen…

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