Großkopfert: „Hänsel und Gretel“ an der Staatsoper Unter den Linden

Na endlich ist die Staatsoper Unter den Linden, nachdem sie schon im Oktober wiedereröffnet und gleich wieder zugemacht wurde, wirklich offen. Am ersten Weihnachtsfeiertag schaut der Konzertgänger sich die Neuinszenierung von Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel an, gemeinsam mit dem Konzertgängerkind – obwohl das nicht gern in Kinderopern geht, weil es in Kinderopern immer so laut ist. Aber 1. sind in Kinderopern immer die Erwachsenen am lautesten, nicht die Kinder, und 2. ist Hänsel und Gretel ja keine Kinderoper. Auch wenn sie aus einem Kinderspiel entstand und die Grässlichkeiten von Grimms Horrormärchen ziemlich abmildert und Kaiser Willem Zwo persönlich befand, das Werk sei für Kinder ganz besonders geeignet, man könnte ganz „unbesorgt“ seine Kinder hineinschicken (Humperdinck an seine Frau, 14.10.1894).

Die Regie ist ein Ereignis, zum Glück kein unbesorgtes. Denn besorgt hat die Regie Altmeister Achim Freyer, und ergo ist sie sogar viele Ereignisse, sehr bunt zudem. Zu viele und zu bunt? Jedenfalls befriedigen nicht alle gleichermaßen. Das Hauptereignis ist zwiespältig: Die beiden Hauptdarsteller tragen monstermelonengroße Kullerköpfe auf den Schultern. Potenziertes Kindchenschema, toll sieht das aus und schafft en passant eine Verbindung zum Geist des häuslichen Puppenspiels, das am Anfang der Genese des Großen Musikalischen Märchenweihdramas stand. Andererseits wird so die Mimik der Hauptfiguren sichtbar wie sonst nie auf einer Opernbühne, und das heißt im Fall dieser zwei Masken die Abwesenheit von Mimik, und das wird auf Dauer etwas eintönig. Selbst wenn die Maskenträgerinnen die Augen an zwei Stäbchen hübsch kullern lassen können.

Die hohe Bild- und Figurenereignisdichte machts wett. Manches bleibt zwar in halber Luft hängen, so das am Ende herabschwebende revolutio-Banner. Das Lebkuchenhaus ist eine Enttäuschung, seine Verknüpfung mit Reklamekritik wirkt so beliebig wie die gelegentliche Doublierung der Hauptfiguren.

Aber. Aber! Die unzähligen Fantasiefiguren, die die Bühne kreuz & quer & auf & ab bewimmeln, sind weit mehr als verkurzweiligendes Larifari. Da begegnen Gestalten von bedeutungstragendem Mehrwert, die sich mächtig einprägen: die herabschwebende Riesenkreuzspinne vor allem. Oder die sich irgendwann entzweiteilende Katze. Und der personifizierte Hunger, der der beste Koch sein soll, ein enormer Lulatsch mit Loch im Bauch; und wer da hat ein Loch im Bauch, der hat ebenso ein Loch in der Birne und dem ist ins Knie geschossen. Phenominal auch die Gießkannenburkas der Taumännchen-Gehilfen, wie überhaupt Freyers Kostüme wunderherrlich sind. Solch überbordende Vielfalt bei derartiger stilistischer Geschlossenheit ist schon was Feines.

Von stilistischer Geschlossenheit kann in der rundum erneuerten Staatsoper, wie ja nun mannigfaltigst bekakelt, schwerlich die Rede sein. Der Saal mit seiner angehobenen Decke wirkt immer noch putzig disproportioniert, wie ein oben aufgeplatztes Ei. Aber das kann ja auch ein Alleinstellungsmerkmal werden: das Opern-Ei. Vielleicht ist es gar das Ei des Kolumbus, denn der Saal ist unten platt und kippt ergo nicht um.

Dass auch die Akustik unten platt sei, behaupteten böse Zungen. Der Konzertgänger kann dieser Kritik nicht zustimmen, er ist diesmal mit dem akustischen Ereignis rundum zufrieden. Hatte er im Oktober (im zweiten Rang sitzend) bei einem Symphoniekonzert einige Zweifel, vor allem was das stumpfe Blech anging, so hört er diesmal (im Parkett, Reihe 8) so warmen wie differenzierten Mischklang. Beginnt ja schon herrlich hörnern, Hänsel und Gretel. Aus dem Graben scheint das Orchester wohliger zu tönen als von der Bühne, was ja keine schlechte Nachricht für ein Opernhaus ist: dass es eben mehr Opernhaus als Konzertsaal ist. (Nur mit der Sicht bleibts halt so eine Sache.)

Sebastian Weigle führt die Staatskapelle zu Klarheit und Klangschönheit und lässt die Reichtümer der seltsam-faszinierenden Wagner-Eiapopeia-Partitur abwechslungsreich hervorleuchten. Die Sänger, an diesem Abend wiederum in Premierenbesetzung, lassen keine Wünsche offen. Katrin Wundsam als Hänsel und Elsa Dreisig sind von anmutigster kindlicher Klarheit, Dreisig in einem insgesamt äußerst textdeutlichen Ensemble die allerdeutlichste. Nur bei Marina Prudenskaya als Mutter versteht man nicht so viel, dafür hat sie die größte Stimme, und die braucht die gebrochenste Figur des Stücks auch. Roman Trekel holterdipoltert als Vater so losgelassen und herzvoll, wie man es diesem intelligenten Sänger kaum zugetraut hätte. Bei Stephan Rügamer spürt man dagegen eine leichte Distanz, so als wäre die Knusperhexe ihm doch temperamentwidrig. Vielleicht auch, weil er anfangs sehr aus der Tiefe des Raums und des Kostüms zu singen hat. Kultiviert und seriös durchgewitzt ist das, mit einem schön mähenden Schaf mittendrin auch, aber dem Hexenritt fehlt (auch orchestral) der letzte Walpurgispep. Ein bissl peinlich, wie der Sänger danach das Publikum regelrecht zum Applaudieren auffordert.

Das Kind des Konzertgängers ist aber mit der Hexe zufrieden, und Kinder sind kompetentere Hexenbeurteiler als Väter. Einen guten Eindruck machen auch die jungen Sängerinnen Corinna Scheurle und Sarah Aristidou als Sand- bzw Taumännchen. Geradezu sensationell aber klingt der von Vinzenz Weissenburger einstudierte Kinderchor der Staatsoper. Der präzise leise Einsatz im Liegen ist von atemberaubender Wirkung.

Zwei Ereignisse vor und nach der Vorstellung verschlagen dem Besucher dagegen eher ungut den Atem. Der Wunsch nach einem Sitzkissen fürs Kind wird abschlägig beschieden mit dem belehrenden Hinweis, dergleichen dürfe es schon mal gar nicht geben und zwar von wegen Brandschutz, Regel sei Regel. Gelten nun an der Komischen Oper, wo auch kleingeratene Erwachsene sich an der Garderobe Sitzkissen abholen, andere Brandschutzregeln? Möglicherweise weil eine Abfackelung der horrend teuer sanierten Staatsoper fataler wäre als eine Abfackelung der Komischen Oper?

Und wenn direkt nach Vorstellungsende staunende Besucher den wertvollen Raum noch einen Moment auf sich wirken lassen oder gar fotografieren wollen, werden sie mit Knusperhexencharme hektisch hinausgescheucht. Da fällt dem Konzertgänger doch eine Redewendung des hier heimlich schon mehrfach zitierten Karlsson vom Dach ein: Wir Berliner, wir sind ja so unerhört gastfrei. Die Bonbons der Gäste haben wir indes wohltätigen Zwecken zugeführt.

Zwei weitere Aufführungen am 29. Dezember (in anderer Besetzung, über die man hier Lobendes lesen kann).

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6 Gedanken zu „Großkopfert: „Hänsel und Gretel“ an der Staatsoper Unter den Linden

  1. Es war der erste Humperdinck meines Lebens!
    Rein raumakustisch fand ich Hänsel und Gretel bislang am besten. Aber Humperdinck ist auch einfache Musik. Die letzte halbe Stunde fand ich musikalisch langweilig.
    „Nur mit der Sicht bleibts halt so eine Sache“ Ja. Ich war für die moderne Renovierung mit mehr Sicht und Klang, aber es hat nichts genützt. Dass die dunkelgetäfelte Cafeteria im UG 1:1 rekonstruiert wurde, ist seltsam.

    • Ja, die „historische“ Variante hat Brachmann in der FAZ im Oktober nochmal mit viel Herzblut und guten Argumenten verteidigt, aber es ist so vom Angesicht der großen Geschichte her gedacht, nicht von Sicht und Hörsicht des kleinen Publikums.
      Wenn die letzte halbe Stunde von Hänsel und Gretel langweilig wirkt, hat doch was an der Aufführung nicht gestimmt, beim Hexenritt brennt normalerweise der Weihnachtsbaum, einfach hin oder her. Janowski in der Philharmonie letztes Jahr war knorke.

      • Der Artikel von Brachmann hat mir auch gefallen. Ja, Janowski in allen Ehren. Ich such grad den Schlatzkommentaraccount (mein Beitrag zu Ihrer Weg-mit-dem-Bindezeichen-Initiative) mit dem Bild. Das kommt davon, wenn man einmal automatische Formulardaten löscht. Ich probiers mal so.

  2. Zwei weitere Aufführungen am 29. Dezember (in anderer Besetzung, über die man hier Lobendes lesen kann).
    ah ein Wahrsager :-)))) Sie wissen heute schon, das die am 29. gelobt wird..
    aber mutig, sich 2x die Oper anzutun in so kurzer Zeit, nö, die ist nicht meine Welt

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