Das 20. Jahrhundert ist rappelvoll von interessanten Violinkonzerten, die Alternativen und Abwechslungen zu den sechs immergleichen Repertoire-Schlachtrössern der berühmten Komponisten B1, B2, B3, M.-B., T. und S. bieten. Die Berliner Philharmoniker machten sich bereits beim Musikfest mit dem selten zu hörenden Werk des Komponisten Z um Repertoire-Erweiterung verdient. Nun ist der mit Bernd Alois weder verwandte noch verschwägerte Geiger Frank Peter Z. zu Gast und spielt das hörenswerte 1. Violinkonzert von Bohuslav M. An einem sehr tschechischen Abend, dessen Protagonisten die Sonderzeichen á, č, í, ř, š, ů auf die Zungenwaage werfen, dass dem schwerfälligen deutschen Pronunziationsvermögen ganz flatterzungig wird.
Fast pausenlos spinnt und rädert die Geige in Martinůs in den 30er Jahren komponiertem, aber erst 1973 von Josef Suk (Enkel des Komponisten Josef S. und Urenkel von Antonín D.) uraufgeführtem Konzert. Monothematisch wirkende Keimzelligkeit zeichnet es aus, aber die Zelle flackert und teilt sich mit derartigem Zug, dass kein Anflug von Ödnis entsteht. Enorm, in wie vielen Farben, Schattierungen, Synkopen die unruhigen Figuren des ersten Satzes schillern. Höchstens der zweite Satz könnte riskant idyllisch wirken. Am Schluss des Finales saust die Geige in Luftflüchtigkeit hinauf und hinaus. Das ist eine so federleichte Virtuosität, dass die Frage nach dem kompositorischen Gewicht des Stückes sinnwidrig scheint. Der Konzertgänger ist sich zwar ein bisschen unschlüssig drüber (so ergehts ihm öfter mit Martinů). Aber er würde das Stück durchaus gern nochmal hören. Und von Frank Peter Zimmermann, diesem Geiger mit der eigentümlichen Mischung aus Kraft und Zärtlichkeit, hört man eigentlich alles gern. Noch einnehmender als dessen hohe Bravour und Brillanz ist hier die merkliche Begeisterung für dieses Stück.
Hier eine Aufnahme mit Josef Suk jr. und den Tschechischen Philharmonikern (jenem Orchester, bei dem Martinů vor dem Ersten Weltkrieg zweiter Geiger war) unter Václav Neumann:
Ganz außer Frage steht dann das Gewicht von Frank Peter Zimmermanns Zugabe, der ergreifenden Melodia aus Béla Bartóks später Solosonate.
Der Dirigent Jakub Hrůša, der das Orchester bei Martinů sicher leitete, sitzt bei der Zugabe hinter den ersten Geigen und hört zu, das nimmt für ihn ein. Und durchaus einnehmend wirkt auch die anfangs zu spürende Nervosität des 37jährigen Chefs der Bamberger Symphoniker, der zum ersten Mal bei den Berliner Philharmonikern zu Gast ist.
Vor und nach das Martinů-Konzert hat er zwei schöntönende Horrorschocker gesetzt, die er (anders als die Violinkonzert-Rarität) auswendig dirigiert.
Antonín D.s Zlatý kolovrat (Das goldene Spinnrad, 1896) ist eine Sinfonische Märchendichtung. Drei Frauen werden abgemurkst, zwei davon zurecht, denn sie sind böse Stief-Frauen, die dritte aber wird trotz abgehackter Arme und Beine und herausgerissener Augen wieder auferweckt und darf den König heiraten: Dornička, eine Art tschechisches Aschenröschen oder Dornputtel FSK 18. In dieser Musik gibts logischerweise ein celli-ratterndes Spinnrad, außerdem viele Jagdhornfanfaren und eine verliebte Solovioline. Hrůša dirigiert das Stück, das den Konzertgänger nicht zu Dvořáks vollkommensten Arbeiten zu gehören dünkt, mit rudernden Armen wie im ZDF-Orchestergarten. Die Philharmoniker spielen sowas natürlich prima, Pan Stabrawas Geige entzückt etc pp. Wenn es aus dem Inneren des Goldenen Spinnrads etwas Schroffes, Drastisches herauszukramen geben sollte, hält Hrůša sich trotz einiger äußerlicher Aufregung vornehm zurück. Dem Konzertgänger ists jedenfalls, egal wie gut gespielt, eins jener Stücke, die er geduldig durchsitzen muss.
Da leuchtet die Kunst dieses Orchesters in der Kosaken-Rhapsodie Taras Bulba von Leoš J. (von dem es ja auch ein tolles, zu selten gespieltes Violinkonzert gibt) doch an einem ganz anderen Objekt. Hier gibts kein unschlüssiges Durchsitzen, Janáček ist bekanntlich die schönste Musik der Welt.
Taras Bulba ist eine Sinfonische Dichtung, aber nicht so detailstiftelig wie Richard Strauss. Die zugrundeliegende Handlung freilich sollte man den anwesenden Kindern auch nicht erzählen: Im ersten Satz tötet der Titelheld Taras Bulba eigenhändig seinen ersten Sohn, im zweiten Satz wird sein zweiter Sohn vor Vaters Augen zu Tode gefoltert, im dritten kratzt Papa selbst auf dem Scheiterhaufen ab; dennoch Apotheose mit Orgel, denn Sieg und Zukunft gehören den Seinen, vulgo dem Heiligen Russischen Reich, das Janáček so liebte.
Auch Hrůšas Zeichengebung wirkt hier viel präziser als das Dvořák-Rudern. Trotz der vielen abrupten Wendungen und Wechsel, der konsternierenden Einwürfe etwa des scharfen Beckens im ersten Satz und der wie erstarrt stehenbleibenden Töne hat die Musik bei Hrůša einheitlich fließenden Charakter. Das Kosakenleben ist ein langer unruhiger Fluss. Diese Einwürfe etwa ließen sich gewiss schärfer hervorkehren, schroffer, drastischer. Sollte man es?
Und sind diese berlioz-artig quiekenden Folterschreie der Es-Klarinette (von Publikumsliebling Walter Seyfarth gespielt) wirklich eine der glücklichsten Eingebungen von Janáček, der doch echtes menschliches Leiden darstellen konnte wie kein anderer?
Trotz dieser leisen Unschlüssigkeit ist das ein redlich gesponnenes Debüt von Hrůša. Auch den möchte man gern wieder erleben.
Außerdem ist der Abend wieder mal Anlass zu einer Verneigung vor unserem ja nicht so riesigen, aber umso musikalischeren Nachbarland: Keine Saison ohne rein tschechisches Programm, so will es das Gesetz. Das geht ja nicht mit allen unseren Nachbarn, mit Frankreich und auch Polen schon, Dänemark vielleicht und Benelux eher weniger. Die Tschechen aber sind in der Musik das, was die Niederländer im Fußball sind (oder in besseren Zeiten waren).
Vielen Dank für die amüsante Beschreibung (und Illustration) einer tschechischen Berliner Konzertnacht!