Lädiert: Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“ an der Staatsoper Unter den Linden

Schön und recht pfiffig, dass die heimgekehrte Staatsoper Unter den Linden den anfangseuphorischen Andrang nutzt, um als eine der ersten Wiederaufnahmen eine Inszenierung des alten Abo-Schrecks Hans Neuenfels auf die sanierte Bühne zu hieven.

Und passt die aus unvereinbaren Gegensätzen verquickte Ariadne auf Naxos von Richard Strauss nicht ganz besonders in diesen Historienhybrid von Lindenoper, der in seiner seltsamen Disproportionalität das Gegenteil des Gewünschten bewirkt: nämlich statt Kontinuität das Lädierte des Hauses hervorzuheben?

Aber so wenig wie über vergossne Milch lohnt es, weiterhin über verpasste Chancen zu lamentieren, einen zuschauerfreundlichen Saal etwa. (Das wäre höchstens was für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss.) Im Publikum, das sich ölsardinesk in den Fluren an- und ineinanderschmiegt, vernimmt man doch so einiges an Schillertheater-Nostalgie, wer hätte das erwartet?

Aber frei nach Aristoteles: Amicus Nörgeln, magis amica veritas – muss man anerkennen, dass die Akustik in der sanierten Lindenoper jetzt auf einem mächtig anderen Level ist als in der Charlottenburger Diaspora. Dass es aus dem Orchestergraben so durchstrukturiert, detailreich und feinsinnig tönt, ist natürlich auch Verdienst der Staatskapelle und ihrer Dirigentin Eun Sun Kim. (Wann wird man nicht mehr zu schreiben brauchen: Juhu, eine Frau am Pult! Im Jahr 2050? 2600?) Das kammert und parliert im ersten Teil und schimmert, bibbert, vibriert zu Beginn des zweiten ganz wunderbar. Immer beschwingt, elegant und flexibel. Und welcher Effekt, wie das Orchester im Finale anschwillt, ohne dass die Dirigentin Klangfett reinpumpen würde!

Sängerisch schlägt sichs tapfer bis top. Ladies first, erst recht bei Strauss: Anna Samuil als Ariadne mag kein überpoliertes Timbre und auch nicht die schönste Höhe der Welt haben, aber gestaltet souverän und differenziert. Wie sie in Es gibt ein Reich das unerhörte Wort Totenreich hinabsinken lässt, dass jedes Phonem mürbe wird, knackt, rieselt, das ist sehr eindrucksvoll. Brenda Raes Koloraturen als Zerbinetta springen auch unter erschwerten Umständen, wenn sie zu halsbrecherischen Intervallen kurvig an die Wand kreiden muss: Die Liebe hat unzählige Gesichter – das z mit Unterschlinge und ohne Schlusspunkt, wie die Koloraturen ohne Punkt und Komma. Ein artiges Punktum setzt hingegen Ariadne, wenn sie in Schönschrift bekennt: Ich glaube an die einzige Liebe.

Marina Prudenskaya indes mag nicht geschaffen sein für den Konversationston des Vorspiels, von ihrem Komponisten versteht man am wenigsten. Aber sie ist eine herum-, auch in tiefe Tiefen chargierende Komödiantin sondergleichen. Und findet zu ihrer wahren Be-Stimmung, wenn den Komponisten die Inspiration behaucht: O du mein zitterndes Herz! Du allmächtiger Gott! Elisabeth Trissenaar ist in der schlotternden Hosen- und Anzug-Sprechrolle des Haushofmeisters eine Art sadistischer Chaplin.

Roman Trekel singt den Musiklehrer mit intelligentem Understatement, schöpft Witz aus Gebrochenheit statt Klischees. Unter den vielen überzeugenden kleineren Rollen, weiblichen wie männlichen (darunter Nymphentrio und Gefährtenquartett), ragt fürs Ohr des Konzertgängers der umwerfend witzige, vitale Tanzmeister von Jürgen Sacher hervor. Roberto Saccà hat in der seltsamen Rolle des Bacchus naturgemäß einen schweren Stand gegen die Fülle des weiblichen Wohllauts. Seine Stimme scheint sich nie so ganz zu öffnen, aber Saccà vermeidet dankenswerterweise jedes unschöne Tenorgeröhre.

Das Halbverschlossene passt auch bestens zur halbseidenen, ja schmierigen Erscheinung des Bacchus in Hans Neuenfels‘ aufregender Inszenierung. Selbst ein Betrogener und Benutzter (das Nymphentrio rüstet ihn gülden ein, so wie sie die Verlassene mit schwarzen Ariadnefäden umwickeln), scheint er selbst Betrüger und Todbringer. Aber ein leidender und lädierter. Und eher sterben die ewigen Sterne, eh denn du stürbest aus meinem Arm! versichert er in den letzten Versen der Oper. Ist das nicht eine beachtliche dichterische Fehlleistung von Hofmannsthal, den Text mit einer doppelt negativ formulierten Liebesversicherung zu schließen? Neuenfels nutzt sie, um dem Bühnengeschehen eine erschütternde, aber völlig plausible Schlusswendung zu geben. Bacchus ist, während sie sich ereignet, in den Orchestergraben hinabgestiegen, sein schmerzendes Handgelenk umklammernd. Eh denn du stürbest aus meinem Arm …

Das ist nur die letzte rabenschwarze Pointe, die die Inszenierung so beeindruckend macht. Schlatz betont, dass sie mit jedem Besuch gewinne. Und das will etwas heißen auf Berliner Opernbühnen.

Neuenfels als Publikumsschreck ist nur in niedriger Dosierung da, fast wie nostalgische Accessoires wirken die angeklebten Latexpimmel, die einmal über die Bühne wackeln. Geradezu altmeisterlich, aber im Sinne von Jungbrunnen: diese fabelhafte Personen- und übrigens auch Kulissenführung. Keinen leeren Moment gibts da, nie steht jemand ratlos in der Bühnengegend herum, wie andernorts tausendfach zu beklagen. Zugleich wird nie Bewegung bloß vorgetäuscht durch hohlen Aktionismus und Gaga-Choreografien, wie noch abertausendfacher zu beklagen. Wie hier jede Bewegung, jede Geste sitzt und flutscht, ist die reine Freude. Das ist Regie-Handwerk? Ja, aber alles andere als selbstverständlich. Es würde lohnen, einmal alle beiläufigen Gesten der Darsteller zu studieren.

Und auch die Kulissen flutschen, ohne je zu quietschen. Schwarz ist die Bühne (die Sphäre der Tragöden) und Weiß (Kulissen, die Kittel der Nymphen, die Sanatoriumsschwestern ähneln) und zwischendrin allerlei Militärgrau, nur Zerbinettas Kleid und Schuhe und Lippen leuchten knallrot. Am Ende des Vorspiels kippen hinter der weißen Wand Steine hervor, all das Geröll und die Bruchstücke, die diesem abgründigen Lustspiel im Magen liegen.

Und doch ist sie komisch, ungeheuer komisch, diese Ariadne auf Naxos. Und mal ehrlich, wie viele wirklich komische Opern gibts eigentlich aus teutscher Feder? (Und wirklich komische Theaterstücke, vom Zerbrochnen Krug abgesehen?)

Zwei weitere Vorstellungen am 14. und 19. Januar.

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2 Gedanken zu „Lädiert: Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“ an der Staatsoper Unter den Linden

  1. Sehr schön beschrieben, besonders wenn es um den Bacchus geht.
    Mir hat Kammerloher (deren Fan ich seit jeher bin) als Komponist besser gefallen, Prudenskaya hat ihre Meriten woanders. Schön, dass Hofmannsthals Witz ein Jahrhundert später dafür sorgt, dass es Lacher gibt: „Sie ist eine Meisterin im Improvisieren; da sie immer nur sich selber spielt“. Ich hab auch über „Und eher sterben die ewigen Sterne…“ nachgedacht. Es ist typischer Hofmannsthal-Ton, aber zu Ariadne auf Naxos passt das. Und lustig, dass Trissenaar öfters improvisiert hat, Übertitel sind eine Heimsuchung für nicht ganz textsichere Mitgestalter von Opernaufführungen.

    • Die Lacher gäbe es aber nicht ohne Strauss, das musikalische Timing ist wirklich enorm. Trissenaars Aussetzer/Improvisationen wurden mir erzählt, ich habe bei ihr erfolgreich nicht auf die Übertitel geschaut (fällt vom Parkett leichter), nur bei Prudenskaya habe ich mitgelesen…

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