Anmerkungen zum neuen „Tristan“ an der Staatsoper

1. Wann wirds so weit sein, dass die Pausen zwischen den Aufzügen einer Wagner-Oper länger dauern als die Aufzüge? In der Neuproduktion von Tristan und Isolde an der Staatsoper Unter den Linden ist es (noch) nicht so weit.

2. Das liegt allerdings weniger an der Kürze der Pausen als an Daniel Barenboims Tempi.

3. Das Gefühl Pausen mit Musik dazwischen kann sich dennoch einstellen.

4. Die Staatskapelle unter der Leitung von Barenboim, der bei sehr langsamen Grundtempi auch heftige Temposteigerungen und Kontraste dirigiert, ist klangvoll und klangstark und klangsatt und klangweißnichtwas, aber für das Ohr des Konzertgängers mangelt es an Raffinesse und Subtilität. Von Magie zu schweigen. Barenboims überragende Wagnerkenntnis steht außer Frage, aber hat er noch Fragen an die Musik? Kaum Geheimnis. Es ist laut. Sehr laut. Im ersten Aufzug gar gelegentlich das Gefühl, einen wenig aufregenden Blockbuster-Soundtrack zu hören. Wie viel leere Theatermusik der Tristan da auf einmal enthält.

5. Woran liegt es, dass es so laut ist? Nur am Orchester? Am Sitzplatz im dritten Rang? Aber die Saaldecke wurde doch eigens gelupft? Ist es die überzüchtete Akustik des renovierten Saals im allgemeinen? Oder hat, ungeheuerlicher und doch wohl unberechtigter Verdacht, jemand heimlich den Knopf für die gute alte elektronische Nachhallverstärkungsanlage gedrückt?

6. Der Orchesterpegel orientiert sich am Pegel von Andreas Schagers Tristan. Schager ist ein beeindruckender Sänger mit eingebauter Nach-, Vor- und Überhaupt-Hall-Verstärkungsanlage im Brustkorb. So laut wie Schager wird bald ein Wagnersänger sein, aber die singen dann oft nicht, sondern rufen und bellen. Schager singt. Dennoch macht der existenzielle Tiefenhall seiner Worte den Konzertgänger nicht recht glücklich. Wortdeutung, Zwischentöne – ist das nicht manchmal seltsam oberflächliche Ausdruckskraft?

7. Dass der Orchesterpegel sich am Naturwunder Schager orientiert, ist für alle Sänger außer Schager ein Problem. Anja Kampes Isolde klingt am schönsten in den lyrischen Passagen, etwa dieser des-Quelles-sanft-rieselnde-Welle-Sache im Zweiten Aufzug. Vom Stimmtyp wirkt sie kaum hochdramatisch. Im ersten Aufzug singt sie die „Mein Herr und Ohm, sieh die dir an“-Passage nicht mit dem ätzenden Sarkasmus anderer Isolden. Aber bei Wagner steht ja tatsächlich mit leisem Hohne, nicht mit ätzendem Sarkasmus. Vielleicht Gewohnheitssache, wenn einem da was fehlt. In den Höhen und im Forte kommt es zu einigen heftigen, manchmal unkontrollierten Ausschlägen. Die kann man allerdings als Notwehr gegen das Orchester betrachten. Denn das ist (wurde es schon erwähnt?) sehr laut.

7. Ekaterina Gubanova ist eine schöne Brangäne, deren Timbre sehr nah an Isolde scheint.

8. Dmitri Tcherniakovs Inszenierung hat einige starke Momente: Das überraschende Aufscheinen projizierter Traumgesichte(r) auf einem Gazevorhang vor dem Guckkasten, in dem zunächst alles geleckt und gelackt und edelholzgetäfelt war. Der Gazevorhang als Schopenhauers Schleier der Maya? Oder wie Isolde das Schwert bereits entfallen ist, wenn der präpotente Tristan singt: daß du nicht dir’s entfallen läßt. Wie Tristan nach der Trankgabe hustet. Und wie Tristan und Isolde nach der Trankgabe sturzinfantil und sternhagelalbern werden. Stoff zum dran knabbern.

9. Tcherniakovs Inszenierung hat auch einige nicht so starke Momente: Eben jenen Gazevorhang, der immer vor dem Guckkasten hängt. Die permanente Vom-Schiri-erwischter-Fußballer-Gestik aller Beteiligten, dieses mit ausgebreiteten Armen klamierende Iiiich?!? Die Allerwelts-Talkshow-Gestik im Zweiten Akt.

10. Das ist natürlich Programm und so aufreizend gewollt. Gegen Strich und Erwartung inszeniert. Tristan singt Isolde was Nächtliches vom Spickzettel vor, Isolde singt nach. Der Hallodri-Verführer aus dem Sanatorium Einfried in Thomas Manns Tristan kann einem in den Sinn kommen.

11. Nur entzündet das, was er da sieht, im Konzertgänger keinen Funken. Es weckt nicht den Wunsch zu ergründen, warum er das alles sehen wollte oder sollte. Im Zweiten Aufzug scheint ihm, dass die Inszenierung einfach kein Verhältnis zur Nacht hat – im Gegensatz etwa zum erschütternd gegen Strich und Erwartung gebürsteten Tristan von Graham Vick an der Deutschen Oper (der meistgehassten Tristan-Inszenierung, die der Konzertgänger am meisten liebt).

12. Im saunösen dritten Rang könnte man Badebekleidung tragen. Dann würde man sich allerdings erkälten, denn es zieht wie Hechtsuppe. Außerdem würden dann die nackten Knie am Vordersitz schubbern. Denn die Sitze sind auch für einen mittelgroßen Mann wie den Konzertgänger viel zu eng.

13. Dieses experienzielle Gesamtpaket veranlasst den Konzertgänger, es wie Thomas Gottschalk bei der Premiere zu machen und die Oper nach dem Zweiten Aufzug zu verlassen. Persönliche Premiere, einen Tristan vor dem Schlussakt aufzugeben.

14. Vielleicht ein Fehler. Denn Kritiker wie Julia Spinola und Anton Schlatz legen einleuchtend dar, wie im Dritten Aufzug wenn nicht alles, so doch vieles aufgehe und sich erschließe.

15. Dennoch kein Bedauern über den vorzeitigen Abgang. Es fand sich für den verlassenen Platz sogar ein Nachrücker von einem dieser bescheuerten „Hörplätze“, die es auch nach der Sanierung gibt. Und es gibt so schöne Nachterlebnisse außerhalb des Tristan.

Zur Aufführung  /  Mehr über den Autor  /  Zum Anfang des Blogs

7 Gedanken zu „Anmerkungen zum neuen „Tristan“ an der Staatsoper

  1. Gottschalk geht immer nach dem 2. Akt. Statistisch nachweisbar. Ich sah ihn mal in München während einer Falstaff-Premiere, da stand er in der ersten und auch noch zweiten Pause mit Frau wie ein Leuchtturm für alle weithin sichtbar an zentraler Stelle des Foyers, aber nach der zweiten Pause waren seine Plätze im Parkett plötzlich leer. Was uns das sagt ? Im Falstaff hat er noch weniger verstanden.

  2. Ihr Artikel trüge besser den Titel „Die Wut über den verlorenen Tristan“. Scheinbar hat Ihnen kaum was gefallen. „Ungeheuerlich“ ist der Verdacht, die Nachhallanlage wäre eingestellt, doch wohl nicht. Sie war ja vor der Renovierung in diesem Haus in der Regel eingeschaltet. Ich gehe wohl noch 2 Mal rein. Ihr Wort vom „Hallodri-Verführer“ trifft ziemlich gut.

    • „Die Wut über den verlorenen Tristan“ ist ja wunderbar!
      Naja, ungeheuer ist mir der Verdacht, weil ja die horrend teure Generalertüchtigung u.a. so eine Anlage überflüssig machen sollte. Aber vielleicht lagen meine Ohren da ohnehin falsch. Wie auch immer, das ist nicht das Hauptproblem dieses Tristan. Ja, es war für mich die quälendste und frustrierendste Tristan-Aufführung überhaupt – obwohl ich schon einige mit viel, viel schwächeren Sängern besucht habe.

      Aber vielleicht sollte ich sogar nochmal hingehen: dann das Schlimmste erwartend, und plötzlich gehen einem Ohren und Sinne auf, kommt ja alles vor.

Schreibe einen Kommentar