Gesangsnackt: Sciarrinos „Ti vedo, ti sento, mi perdo“ an der Staatsoper

Mag sein, dass Jürgen Flimm insgesamt ein paar Jahre zu viel intendantiert hat, aber zu seinen unbestreitbaren Verdiensten an der Staatsoper Unter den Linden gehört die hartnäckige, ja penetrante Salvatore-Sciarrino-Promotion. Denn mit Sciarrino wird man nie einen Volksblumentopf gewinnen; und ein dereinstiges Sciarrino-Public-Listening auf dem Bebelplatz vermag man sich auch in hundert Jahren nicht vorzustellen. Aber in die sonntägliche Hitze passt die Premiere von Ti vedo, ti sento, mi perdo ganz gut. Obwohl diese Musik in ihrer Reduziertheit ja keineswegs dehydriert klingt, im Gegenteil.

Da verzeiht man gern, dass Flimms routinierte Inszenierung durch manche Zappelei ein konzentriertes, durchaus schwieriges Werk aus seiner Höhe zu ziehen sucht: Klamaukieren und Klamottieren und Synchron-Hampelmann-Machen, wenn das Wort bamboloccio fällt, und derlei Mätzchen, die aber nicht drüber hinwegtäuschen können, dass das ein bisschen Rumstehtheater ist. Ob solche Zerstreuungen beim Hören mehr helfen oder schaden, sei dahingestellt. Denn es führt kein Weg dran vorbei, dem Text genau zu folgen, in dem über das Wesen der Kunst theoretisiert und geheimnist wird.

Und doch verbindet sich hier tiefer Sinn mit hoher Sinnlichkeit. Die entsteht aus der Begegnung von Sciarrinos eigenwilliger Klangsprache mit der hochbarocken Eigenwilligkeit der Musik von Alessandro Stradella, der abwesenden Hauptfigur des Stücks: einer Mischung aus Orpheus und Godot. Und einer Prise Caravaggio, der als Referenz einmal aufgerufen wird, des Chiaroscuro-Kontrasts wegen. In attesa di Stradella lautet der Untertitel: Im vergeblichen Warten wird in einem römischen Palazzo Stradellas Musik geprobt und kontrovers diskutiert; man erwartet eine neue Stradella-Arie, die Zeit zieht sich; am Ende wird Stradella aber nicht erscheinen, weil er ermordet wurde. Doch ein Blatt wird übergeben, das die Sängerin, wohl eine Geliebte Stradellas (aber wer weiß?), zu entziffern versucht.

Dieses Entziffern scheint das Kernmotiv zu sein. Es ist auch eine Variante der interessanten Wahlverwandtschaft zwischen „alter“ und „neuer“ Musik“, die das 18. und 19. Jahrhundert überspringt. Wie nun Sciarrino die barocken Klänge in seinen verknappten, haspelnden, hechelnden, oft stotternden oder abreißenden Ton einstrickt, ist immer wieder hinreißend. Und ebenso bezaubernd sind seine Überschreibungen des barocken Tons, wenn aus den Klangfitzeln halbentzifferte alte Musiken hervortreten. Scolpisce l’indicibile, singt ein Stradella-Anhänger: er meißele das Unsagbare heraus; und damit meint Sciarrino natürlich auch seine eigenen Versuche – nur dass sein Meißel eher aus Luft und Licht zu sein scheint. Denn hier klingt auch das Gewalttätige so leicht, dass selbst die Vögel ohrenbetäubend werden (ora gli uccelli assordano).

Das alles wirkt (weil zart) sängerfreundlich und hochkantabel. Die Sänger müssen nichts an Gestaltungskraft der Lautstärke opfern, denn hier ist wenig viel. Es gibt so einen typischen Sciarrino-Atem, in dem jede gesungene Zeile aus einem gedehnten Nichts stark anschwillt, ungeheuer effektvoll. Die Melodien sprechen, die Rezitative singen, heißt es im Libretto.

Das alles verdient eben die Luxus-Besetzung, die es hier hat: Der Tenor Charles Workman als stradella-skeptischer Musiker in steter Debatte mit dem stradella-enthusiastischen Schriftsteller, den der Bassbariton Otto Katzameier singt – sehr schön diese skelettierte Stradella-Arie Si salva chi può (rette sich, wer kann). Auf das buffo-manierliche Hervortreten der Diener-Ebene macht das Orchester durch ausgedehnte Perkussion aufmerksam. Beide Dienerpaare sind köstlich, sowohl das weibliche mit Sónia Grané (Sopran) und Lena Haselmann (Mezzo) als auch das männliche mit dem Bariton Christian Oldenburg und dem Countertenor Thomas Lichtenecker. Durch konzises Stottern gefällt Emanuele Cordaro, mit jugendlichem warmweichen Bassbariton David Oštrek, in stockender Luzidität der sechsstimmige Chor, kurzum, sängerisch alles bingissimo unter den Linden.

Der vorzügliche Gesamteindruck wird noch überragt von Laura Aikin, deren Kompetenz in alter wie neuer Musik der große Trumpf dieser Aufführung ist, ohne dass Aikin je auftrumpfen würde: großartige Gesangs-Intelligenz, die Koloraturpracht und Deklamationsmacht vereint. Sie singt als facettenreiche, nie ganz durchschaubare, um so leidenschaftlichere Cantatrice so virtuos wie leise. Il canto offerto nudo all’altrui follia – Gesang nackt dargeboten der Tollheit der anderen. Denn wie Katzameiers eindrucksvoller Schriftsteller zurecht warnt: è la mente che ode, non l’orecchio, nicht die Ohren hören, sondern der Geist.

Maxime Pascal leitet das sciarrino-erfahrene Orchester mit Übersicht und Hingabe. Aribert Reimann sitzt im Premierenpublikum, ein leibhaftiges Gütesiegel für Gesangsqualität. Im Schlussjubel muss Sciarrino, der so klein ist wie Wagner, seinen Arm recken, um dem Hünen Oštrek auf die Schulter zu klopfen: in Anerkennung seines Gesangs oder aus Mitgefühl, weil Oštrek gerade den Halbfinal-Einzug seiner Kroaten verpasst? Später winkt der scheu wirkende Sciarrino dann noch in den Souffleurskasten, als wollte er darin verschwinden wie so ein flüchtiger Klang.

Zugegeben: Der Hörer muss Ohren wie Geist sehr anstrengen, um den weitverzweigten Diskursen und Handlungs(bind)fäden von Ti vedo, ti sento, mi perdo halbwegs zu folgen. Dass die Oper (als gemeinsames Auftragswerk der Lindenoper und der Scala, wo sie 2017 erstmals aufgeführt wurde) länger und größer besetzt ist als frühere Sciarrino-Werke, ist der thematischen und dramatischen Fokussierung nicht förderlich. Im Vergleich zum fast thrillerhaften Luci mie traditrici vor zwei Jahren wirkt diese Oper weitschweifig. Ob das eine Stärke oder eine Schwäche ist, könnte mehrmaliges Hören zeigen.

Als Hör- und Denkhilfe gibt es heuer eine präzise Sciarrino-Ausstellung im Apollo-Saal. Und für vier weitere Termine bis zum 15. Juli sind Karten auch in den günstigsten, sichtbehinderten Kategorien noch erhältlich. Und der Konzertgänger findet, bei allem Respekt vor dem verdienten Sciarrino-Promoter Jürgen Flimm: besser zweimal gut gehört als einmal gut gesehen.

Weitere Kritiken: Schlatz, NZZ (zur Mailänder Uraufführung). Verärgerter Verriss im Kulturradio. Im Tagesspiegel befindet der differenziertere Amling sehr pointiert, die Inszenierung lasse bei diesem Komponisten der Stille keine einzige ruhige Minute auf der Bühne zu.

Nachtrag: Ein zweiter Besuch der Oper am 15.7. ließ Handlung und Diskurse doch stringenter erscheinen. Die zappelige Inszenierung erweist der zauberhaften Musik wirklich einen Bärendienst. Die Musik aber ist herrlich und Laura Aikin una vera primadonna.

  Mehr über den Autor  /  Zum Anfang des Blogs

Schreibe einen Kommentar