Sirenenerwählt: Staatskapelle mit Barenboim, Crebassa, Prohaska spielt Debussy

Teile des Klassikpublikums können einen schon befremden. Zum Beispiel diese Stange von drei oder vier ergrauten Staatskapelle-Abonnenten, die einer sehr jungen Frau Gift und Galle ins Gesicht blasen, weil diese – offensichtlich zum ersten Mal in der Philharmonie – ihren Platz quer durch die Reihe ansteuert: ja wo sie überhaupt hinwolle, warum erst jetzt, von der falschen Seite, müssen alle aufstehen etc pp. Da stellt sich doch die Frage, ob man in einem durchaus nicht überjüngten Publikum die Abwesenheit einer orientierungslosen Neulingin überhaupt wünschen darf. Noch dazu bei einem Programm, das so exquisit ist, dass selbst drei Hochkaräter wie Daniel Barenboim, Marianne Crebassa und Anna Prohaska die zweite Aufführung in der Philharmonie nur mit Mühe vollbekommen: Claude Debussy pur – aber nur ein Evergreen, dafür drei vergleichsweise unbekannte Stücke. Würdiger Abschluss für einen Schwerpunkt zum Debussy-Jubiläum, das mit sympathisch weniger Brimborium als Beethoven- oder Wagner-Jubiläen daherkommt.

Der Konzertgänger fragt sich, wen von diesen beiden erwählten Sirenen er bezaubernder finden soll, Prohaska oder Crebassa. Am Ende vielleicht doch Crebassa, aber nicht wegen Prohaskas kleiner Unvollkommenheiten (die auch bezaubernd sind), sondern wegen Crebassas Vollkommenheit.

In Claude Debussys Poème lyrique La Damoiselle élue (1888, UA 1893) ist Crebassa, im roten Kleid, als une récitante aus der Tiefe des Harfenraumes zu hören. Anna Prohaska, im weißen Kleid, steht als auserwählte Jungfrau vorne.

Dante Gabriel Rossettis Gedicht über eine tote Frau, die sich an der goldenen Brüstung des Himmels (sur la barrière d’or du ciel) in sexuellem Verlangen nach ihrem noch lebenden Liebsten windet, bis ihre Brust die Brüstung erhitzte (son sein eut échauffé la barrière), gehört zur Textkategorie so schlecht, dass schon wieder gut. Eine Kategorie freilich, die ihrerseits so schlecht ist, dass sie schon wieder — lassen wir das. Wer für den Text plädieren will, wird das Plädoyer einleiten mit: Naja, aber Parsifal…

Die Assoziation ist auch musikalisch nicht falsch. Debussys Jugendwerk, aus dessen Orchestrierung man manches Versprechen heraushören kann, ist auf raffinierte Weise eingängiger nachwagnerischer Kitsch, voll wagnerotischer Sehnsuchtsfiguren einerseits, frühdebussytanter Quinten-„Archaik“ andererseits. Anna Prohaska ist eine erwählte Jungfrau von der sinnlichglühenden Seite, die viktorianisch-präraffaelitisch-décadente Wasserleiche hat im Ableben anscheinend noch heftige Bluttransfusionen erhalten. Der Staatsopernchor ist auch dabei, von solider Himmlischkeit, ohne freilich die Brüstungen im Saal zu erhitzen.

Präraffaelistik der originalen und handfesteren Sorte in den Trois Ballades de François Villon (1910). Erstaunlich, was der Debussy so geschrieben hat; für den Konzertgänger das einzige Stück des Abends, das und von dem er noch nie gehört hat. Marianne Crebassa hat eine traumhaft ausgeglichene Stimme, die selbst im wüstesten Deklamieren etwa in Lied 3 nie unkontrolliert ausschlägt. Halb Piaf, halb Callas, würde man ihr stundenlang zuhören wollen, selbst wenns kompositorisch noch spartanischer wäre als es gelegentlich zu sein scheint. Die Urfassung wird nur vom Klavier begleitet, an dem bei der ersten Aufführung 1910 übrigens Alfred Cortot saß. Er begleitete Maggie Teyte. Die Uraufführung der Orchesterversion sang ein Bariton (Charles W. Clark), das kann man sich bei diesen kleinen frivolen Dramen schwer vorstellen.

Die Blumen für Marianne Crebassa überreicht ein Trompeter der Staatskapelle, schöne Extraaufgaben eines Musikerlebens. Barenboim hält den guten Mann aber zunächst lange am Ärmel beiseite, um La Crebassa im Applausbade nicht zu stören. Das sind so die kleinen Charmanzen, die Herrn Barenboim überaus liebenswert machen und an denen sich eingangs erwähnte drei oder vier Abonnenten mal ein Beispiel nehmen sollten.

Das formidablöse Niveau der Staatskapelle zeigt sich in den beiden (fast) gesangfreien Orchesterwerken des Abends.

In den Trois Nocturnes (1897-99, UA 1901) meint man zwar herauszuhören, warum die so viel seltener gespielt werden als der Vorgänger Prélude à l’après-midi d’un faune. Die eröffnenden Nuages, wohl das gehaltvollste der drei Stücke, scheinen in ihrer schwarzgrauweißen Statik gleichwohl ein bissl monoton. Tatjana Winkler fügt mit ihrem hervortretenden Englischhorn allerdings eine besondere Grauschattierung hinzu, über die Pierre Boulez schrieb: Das Englischhorn in ‚Nuages‘ setzt jenes neue Atmen der Musik fort, das der Komponist mit den Flöte des ‚Fauns‘ zum Leben erweckt hatte. Und die titelgebenden Sirènes des dritten Stücks hat Barenboim schön im Orchester verteilt, in etwa zehn Zweiergrüppchen aus Sopranen und Mezzosopranen. So fein die ihre damals seltsam beliebten albernen Vokalisen auch summen, sirenenhafter flirren freilich die Stimmfarben des Orchesters. 

Ale der Sirenensingsang aufhört, seufzt eine alte Dame in Block B: Schön! Das ist wiederum reizend.

Im Schlussknaller La Mer (1905) sind etwaige Sirenen zum Glück in der Tiefe des Ozeans versunken, so dass wir uns ungestört seiner aufregenden Oberfläche zuwenden können. Denn um die Oberfläche gehts ja hier. Dieses Stück mag man sich von Berlins anderen Opernorchestern nun kaum vorstellen, da dräute doch Hausmannskost oder Mecklenburger Seenplatte. Hier aber, unter Barenboims energischem Dirigat, wirklich Meer: von enormer, auch erschreckender Kraft und zugleich so perfekt fließend und wellend strukturiert, dass man nicht herauskommt aus dem Staunen über die unendlichen Wunder sinfonischen Klangs.

Weitere Kritiken (zur 1. Aufführung in der Staatsoper Unter den Linden): Schlatz, Göbel

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10 Gedanken zu „Sirenenerwählt: Staatskapelle mit Barenboim, Crebassa, Prohaska spielt Debussy

  1. Also ehrlich, ich fand diese Präraffaeliten immer sehr interessant, ob als Maler oder Dichter. Klar ist das alles ziemlich wischi-waschi, aber das ist Eichendorff ja auch. Wenn man dann das Entstehungsdatum 1850 für den ja doch irgendwie prä-symbolistischen Text bedenkt…, also ich mag das Zeug.
    Oha, wenn ich den Boulez-Spruch vorher gekannt hätte, hätte mir Nocturnes besser gefallen.

  2. Ich muss hier kurz als classiccard-Konzertbesucher anmerken, dass das Publikum bei den Abo-Konzerten der Staatskapelle schon einem manchmal das Gefühl vermittelt, es würde gerne mit der Hochkultur und Barenboim für sich alleine bleiben, so alters- und sozialstrukturmäßig.

    • Ja, unmöglich, wenn so ein Gefühl bei jungen Besuchern entsteht. Lassen Sie sich bloß nicht vergraulen und bringen Sie Freunde und Freundinnen mit!
      (Ach, und ich denke gern an meine Classiccard-Zeit zurück…)

      • Dieses ich nenn’s jetzt mal Münchnerische Verhalten hat auch seltsamerweise nur das Staatskappelle-Publikum, ansonsten ist das ja in Berlin schon sehr entspannt, classiccard sowieso super. (Aber was mach ich jetzt mit 31? Selber Abo?)

        • Im Konzerthaus ist es manchmal ein bisschen ähnlich, allerdings nicht sozial-, nur altersstrukturmäßig. Aber man muss sich auch immer sagen, dass es doch einzelne sind, die halt überproportional auffallen. Garstigkeit sticht hervor. Stimme ansonsten zu, dass Berlin entspannt ist. Als ich in Wien studiert habe, wurden an der Staatsoper Kurzehosenträger abgewiesen, das ist hier unvorstellbar.
          Das erste Abo ist immer eine Überwindung, es ist wie mit dem Gesieztwerden ein paar Jahre früher 🙂

  3. na ja, ähnlich gings mir gestern im Rigolette, als zwei aufgerüschte Jungdynamikerin noch reinkamen als das Vorspiel begann und dann nicht mitbekamen, das es rechts und links gibt……was blieb den Besuchern anderes übrig als die dann grummelnd durchgelassen wurden, und ausserdem wohl vorher noch ein ausgiebigen Parfümbad genommen hatten…

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