Scheu: Schuberts „Winterreise“ mit Mark Padmore und Kristian Bezuidenhout

Diese Winterreise ist ein scheues Tier, das in eine Treibjagd gerät.

Denn der Tenor Mark Padmore, Artist in Residence der Berliner Philharmoniker, lässt sich bei Franz Schuberts schauerlichen Liedern von einem Hammerklavier begleiten, das der Pianist Kristian Bezuidenhout in ein so zartes wie animalisches Wesen verwandelt. Die Jagdhunde indes haben sich nicht nur in der Seele, sondern auch im Kammermusiksaal verteilt. 

Ihrem Bellen und Schnappen muss und will man die milden, wilden Farben des Klaviers abkämpfen, es ist nicht leicht. Aber des Hörkampfes wert. Natürlich vernimmt man das Hammerklavier immer wie von ferne, allein weil es um Welten leiser ist als ein moderner Flügel. Das macht gerade die ins unerträgliche Dur stürzenden Traum- und Erinnerungspassagen der Winterreise so intensiv. Je ferner, desto ungeheuerlicher und herzzerreißender.

Und bellten die Hunde, rasselten die Ketten je so gespenstisch wie in diesem Dorfe?

Knackendes Eis hört man im Klavier, dumpfe Schritte im Bass. Wenn Bezuidenhout aber vor dem Wirtshaus den Flügel zusätzlich dämpft (eine dolle Umschaltaktion mit dem ganzen Bein ist das), leuchten die folgenden Akkordblöcke so fahl wie ein Posaunenchoral aus dem Jenseits. Das Klavier wird zu einem wundertätigen Schatzkästchen. Im Leiermann schließlich tönt es splitternackt, so nackt wie ein Gerippe.

Wie zart und klar Bezuidenhout als Pianist, so zart und klar ist Mark Padmore als Sänger. Fast erschrickt man, wie laut Padmore das erste Wort in den Saal wirft: Fremd! Um den Rest des Verses leise, fast verzagt folgen zu lassen: (Bin ich eingezogen.) Fremd! (Zieh ich wieder aus.)

Padmores Wanderer zieht aus, und zwar sich, komplett. Man hört Padmore nicht nur ringen, man sieht es auch. Vor allem inständig händeringend. Da ist null Pose, sondern ein Kampf aufs Äußerste und ums Innerste. Padmore hat einen klaren, hellen Tenor. Dass ihm das Hammerklavier erlaubt, nicht laut werden zu müssen, kommt seiner Stimme entgegen. Gestaltung, Erleben und Textdeutlichkeit sind eminent. Am berührendsten aber, wenn die Stimme auf gewissen Vokalen zu brechen droht: dem Diphtong in Zuhause, oder hört.

Während Ian Bostridge Schuberts Winterreise seinerzeit mit einem Schrei enden ließ, scheint Padmore die Stimme des Wanderers ins Ersterbende zu führen.

Der schlimmste Feind des Sängers ist an diesem Abend allerdings das Publikum. Für dessen krasses Betragen kann man sich nur entschuldigen. Man hätte sich nicht beklagen dürfen, wenn Padmore und Bezuidenhout das Konzert abgebrochen hätten. Es gleicht einer Hetzjagd, wie es da alle paar Minuten zwischen den Liedern zu einer Abhust-Orgie sondergleichen kommt. Unvorstellbar, da als Künstler die Konzentration zu wahren. Dass während eines Liedes ein Handy vibriert, fällt da kaum mehr ins Gewicht; und fürs schrille Ziepen eines Hörgeräts mag man keinen Vorwurf machen, der Träger kann das selbst ja nicht hören. Aber für die Abhust-Orgiasten gibts keine Rechtfertigung. Im Lauf des Abends (denn 24 Lieder führen zu 23 Abhust-Pausen) werden einige dieser Abhuster zu „guten“ Bekannten. Man weiß, wo sie sitzen, kennt ihre speziellen Timbres, ihre Resonanztiefe, den Röchelgrad.

Es ist eine Schande und es keimt der Gedanke auf, analog zur Hooligandatei der Bundesliga und der Gefährderdatei des Innenministeriums eine Hustenhooligandatei oder eine Konzertgefährderdatei anzulegen.

Nicht nur der Wanderer geht also einen schweren Gang, auch der Hörwillige. Aber er wird im Gegensatz zum Wanderer belohnt, durch ergreifende Schönheit. Gefrorne Tränen also auf dem Heimweg, obwohls noch über Null ist. Im Tiergarten begegnet dem Konzertgänger dann noch ein scheues Tier. Müsste das nicht schon im Winterschlaf sein? Behutsam führt er’s von der Fahrradpiste Richtung Bellevue ins sichere Unterholz; und hätte dem armen Wanderer gewünscht, er wäre auf seinem Weg nicht nur Raben, Hunden, Hähnen begegnet, sondern auch einem solchen Igel.

Nächstes Konzert mit Mark Padmore am 20. Januar.

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6 Gedanken zu „Scheu: Schuberts „Winterreise“ mit Mark Padmore und Kristian Bezuidenhout

  1. Im Ernst, man hört in Konzerten Hörgeräte fiepsen? Vielleicht machte ich für solche Laute bislang stets die elektronische Saaltechnik verantwortlich. Wie schön, Hammerklavier evoziert Posaunenchoräle.

      • Das Fiepen mag daran liegen, dass sich die Einstellungen von Hörgeräten selbst der Umgebungslautstärke anpassen können. Verändert sich diese Umgebungslautstärke drastisch (wie bei solistischen Werken z.B. Kunstliedern mit lauten/leisen Passagen, Stille und Applaus), kann es vorkommen, dass die Geräte übersteuern, der Betroffene kann also nichts dafür. Das entstehende Geräusch bekommt der Träger übrigens sehr wohl mit, es wird ihm auch definitiv unangenehmer sein, als den Mithörenden. Dennoch ist es in Konzerten natürlich nett, das Gerät auszuschalten, wenn so etwas passiert, um die anderen nicht zu stören.

    • Das stimmt, dort könnte man noch von ganz anderen Hunden gehetzt werden. Auf der Fahrradautobahn Richtung Bellevue sind das Gefährlichste allerdings unbeleuchtete Narren im Geschwindigkeitsrausch. Und die Überquerung der Motorrennbahn des 17. Juni.

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