Scharfohrig: Berliner Philharmoniker, Rattle, Sellars mit Leoš Janáčeks „Příhody lišky bystroušky“

Leoš Janáčeks Wald webt nicht, sondern lebt. Hört man seine Oper Příhody lišky bystroušky (was man eher als Die Abenteuer der Füchsin Schlaukopf oder auch Scharfohr übersetzen müsste, nicht Das schlaue Füchslein), hat man den Eindruck, dass Janáček im Gegensatz zu Wagner und anderen teutschen Waldweberomantikern auch mal einen Wald betreten hat. Wie überwältigend und unangenehm zugleich es da flirrt, sirrt, sticht, funkelt, kratzt und knackt, zeigt die Aufführung der Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle und fantastischen Sängern (sowie einer endfaden Semi-Regie).

Zwar betont Scharfohr Rattle mal wieder eher die vertrackte Rhythmik als den teils subtilen, teils berauschenden Farbenreichtum der Musik. Aber so vertrackte Rhythmik perfekt hinzubekommen, ist ja keine Kleinigkeit. Und Janáčeks Partitur ist so überreich und die Berliner Philharmoniker sind so gut, dass Farbenwunder wie von selbst entstehen.

Die Farbenwunder des Waldes entdeckte das alte Scharfohr Janáček Anfang der 1920er Jahre, nachdem er (inspiriert von einem Zeitungscomic) zu seinem ersten Recherchelauschgang in einen mährischen Wald noch im weißen Anzug erschienen war – woraufhin der Förster ihn direkt wieder zum Umziehen heimschickte. Schon wie nun die Bögen der Streicher am Anfang auf die Saiten prasseln: Sind das die knackenden Zweige? Oder, doch mehr symbolisch als naturalistisch, die wedelnde Fuchslunte bzw Standarte (nur Weidlaien sagen Schwanz oder Schweif) als klingendes Gleichnis des forestrischen élan vital? Wahrscheinlich beides, und noch viel mehr.

Ein Genuss, diese goldene, pieksige, sonnige Musik mal nicht aus dem ewigen Schatten eines Opernorchestergrabens zu hören, sondern vom Podium der Philharmonie! Rattle dirigiert aus einer seriös zerfledderten Partitur, die seine jahrelange Janáček-Expertise sinnfällig macht. Wunderbar groß das überwältigende, aber nie ausufernde Schwelgen auf den Höhepunkten der fragmentarischen Handlung. Gibt es in der Musikgeschichte etwas Ergreifenderes als diese Momente, in denen Janáčeks verknappte Figuren in (ebenso knappe) Eilande der Ekstase umschlagen?

Und wunderbar klein, wie etwa das Kontrafagott knarzt, wenn des Pfarrers Seele in seinen Erinnerungen knarzt. Denn die Menschen sehnen sich bei Janáček und leiden, die Tiere aber leben. Selbst wenn sie sterben. Der Waldgang ist Weidmanns Unheil, nicht weil er dort untergeht, sondern weil er dort im Spiegel das Vergebliche seiner Lebenssehnsucht erkennt.

Sind aber auch tolle Tiere auf dem Podium der Philharmonie zugange! Lucy Crowe (gut erinnerlich als Gilda, die an der Deutschen Oper im abstrusen Goldhasen-Rigoletto ihre Würde bewahrte) ist eine umwerfende Füchsin Schlaukopf vulgo Scharfohr von glasklarem Sopran und rotzigem Charakter: rotzfies, rotzsüß, rotzerotisch, rotzspöttisch, rotzarrogant, rotzsinister – kurzum, rotzwürdevoll und rotzvital. Angela Denoke ist noch immer eine starke Sängerpersönlichkeit. Bei der fuchsbuckelnden, sich ineinander verschlingenden Begegnung von Crowe und Denoke knistert es bis zur Waldbrandgefahr.

Die Gestalt der Füchsin, die sich auch mal in einer nächtlichen Wunschtraumpantomime in eine sexy Zigeunerin verwandelt und am Ende von einem endgroben Kerl abgeknallt wird, macht Příhody lišky bystroušky zu einer ebensolchen „Frauen-Oper“, wie es Jenůfa oder Katja Kabanowa sind. (Die feministischsten Opern hat der alte Sack Janáček geschrieben, da beißt die Mäusin keinen Faden ab.) Schon das Wort liška ist ja Femininum, im Tschechischen vulgo Mährischen ist der Fuchs weiblich.

Aber hier steht der Heldin ein großartiger Unheld von der traurigen Gestalt gegenüber, der gleich zweifach gehandicapt ist: erstens Mann, zweitens Mensch. Wie Gerald Finley den Bassbariton-Förster gestaltet, dieses Spiegelbild von Janáčeks verliebter Altmännerseele, ist sehr bewegend: maskulin und lebensmüde (aber nicht suizidal, wie die Semi-Regie es ihm unterjubeln will). Finleys kontrolliertes, janáčekhaft auf kleinstem Raum schwingendes Tremolo lässt die Seele des Hörers tremolieren, dass es ihm vor Trauer und Glück zu den Augen rauszährt. Dass man bei Finley das Gefühl hat, Mährisch zu verstehen wie die eigene Muttersprache, sei nur am Rande erwähnt.

Auch die weitere Besetzung ist durchweg erfreulich: Der Tenor Burkhard Ulrich ist ein enormer Komödiant, ein Schmerzensclown: als unglücklich verliebter Schulmeister wie als für den Suppentopf geborener Großspur-Hahn. Sir Willard White vereint als Dachs-Pfarrer-Bass Gravität, Wehmut und Lächerlichkeit. Die Südafrikanerin Pauline Malefane hat als schreckschraubige Försterin, Eule, Spechtin (man verliert im Wald manchmal die Übersicht) eine mitreißende Bühnenpräsenz; dass Malefane sogar schon mal den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen hat, macht die Falschschreibung ihres Namens im Programmheft noch schändlicher. Bedauerlich ist, dass man die grandiose Mezzosopranistin Anna Lapkovskaja (begeisternd als Varvara in Katja Kabanowa an der Staatsoper) mehr Stühletragen sieht als singen hört. Aber leider rollenbedingt, als Dackel und Wirtsfrau. An den kantigen Rhythmen, in denen sie den Wirtshaustisch wischt, hätte allerdings auch Janáček helle Freude gehabt.

Last but not least but worst (moralisch, nicht sängerisch): der dämonische, brutale, verknallte Wilderer Hárašta von Hanno Müller-Brachmann. Allein dessen furchteinflößender Auftritt zu Beginn des dritten Aktes mit schweren Orchesterklängen und dräuender Godunowstimme lässt Václav Neumanns Beschreibung dieser Oper als Sonne, Glück und Freude sehr unvollständig erscheinen: Gewalt ist auch mit dabei, und wie.

Sehr schön sind die Auftritte der Kinder. Denn als Chor singt nicht nur der Vocalconsort Berlin, sondern eine ganze Reihe von kleinen Rollen wurde von und mit Kindern erarbeitet, die das alle mit Bravour machen. Beim füchsischen Hochzeitschor sind dann auch die Vokalhelden aus Moabit dabei. Das ist nicht nur ein Education-Programm, das zu Rattles wertvollstem Erbe gehören wird, sondern auch die reine quirlige Freude; der Dirigent vergisst einen Moment zu dirigieren und wendet sich lächelnd zur tanzenden Kinderschar um.

Fast ausschließlich hohes Janáčekglück also. Lediglich die Regie von Peter Sellars (der bei den Bachpassionen berührte, aber bei Ligeti schon nicht mehr überzeugte) ist jetzt auf einem lustlosen Niveau angekommen, dass man es gut österreichisch nicht einmal ignorieren möchte. Triviale Farbscheinwerfer und ein paar Flachbildschirme links, rechts, ganz oben, wo halt gerade Platz ist, mit mikroskopierten Bakterien am Anfang und später jeder Menge Waldbildern: Froschaugen, Insekten, Bäume im Sturm, bei Liebe halt ein Sternenhimmel. Das ist mal redundant und mal plakativ (Hähnchenspießfresserei, wenn die Füchsin den Hahn abmurkst), aber an keiner Stelle atmosphärisch oder gar der Musik dienlich. Man muss Sellars ja nicht gleich in den Wald Of No Return schicken. Doch jetzt könnte man die „bewährte Zusammenarbeit“ gern mal unterbrechen und einem überdrehten Jungregisseur die Chance geben, das nächste Projekt ambitioniert in den Sand zu setzen.

Personenführung allerdings kann der alte Fuchs Sellars, da glaubt man ihm alles. Als er im Schlussapplaus auf der Bühne erscheint, sagt sogar der größte Tuschler des Abends (der wieder mal direkt hinter dem Konzertgänger sitzt) zu seiner Frau: „Das ist wahrscheinlich der Komponist.“

Hören lohnt, und wie. Nochmal Freitag und Samstag. Es gibt noch sehr teure Karten sowie preisgünstige, aber gesangstechnisch ungünstige Podiumsplätze (telefonisch) und ein paar Stehplätze, auf denen man gut hört (90 Minuten vor Konzertbeginn).

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2 Gedanken zu „Scharfohrig: Berliner Philharmoniker, Rattle, Sellars mit Leoš Janáčeks „Příhody lišky bystroušky“

  1. Obwohl ich das Schlaue Füchslein sehr mag. Die Thalbach Inszenierung ist mir zu plakativ,zwar schön anzusehen, habe ich mir diese verkniffen, weil ich dachte, so eine Oper kann man nicht in dem Rahmen „inszenieren“.
    Dann leider Pech gehabt und freue mich stattdessen morgen auf die 3 Orangen

    • Die Thalbachinszenierung ist hübsch und lustig, aber leider auf Deutsch und in der Kinderoper-Schiene.
      „Inszeniert“ wars ja auch nicht dolle, aber es ginge auch (halb)szenisch schon anders. Weniges würde reichen, um Atmosphäre und Tiefe herzustellen.
      Schöne Orangen wünsche ich.

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