Rundum beglückend: Leoš Janáčeks „Jenůfa“ an der Deutschen Oper

Was soll man am heftigsten lieben, was ist das größte Glück an dieser Jenůfa von Leoš Janáček, die jetzt an der Deutschen Oper Berlin wiederaufgenommen wurde?

Mährische Sommerlandschaft (Abbildung ähnlich)

Vielleicht die rundum, wirklich rundum (d.h. intellektuell wie ästhetisch wie emotional) gelungene Inszenierung aus dem Jahr 2012 von Christof Loy, die die Handlung mit zurückhaltender, aber meisterlicher Personenführung auf einen weißen, mal sich weitenden, mal sich verengenden Gefängnis-Rahmen-Kasten im Vordergrund konzentriert, während sich im Hinterraum zwei weitere Dimensionen öffnen: eine konkrete, geradezu mährische, aber dennoch nicht folkloristische trotz Kornfeld im Sommer und Schnee im Winter; und eine unaufdringliche metaphysische mit drei T-förmigen Strommasten, die – man wagt es kaum zu denken – an die Kreuze von Golgatha erinnern? Eine Inszenierung, die ihre Darsteller schonungslos liebt wie Janáček seine Figuren; und zwei der Hauptfiguren am Ende Hand in Hand ins tiefe Schwarz der Welt hineingehen lässt?

Vielleicht die rundum befriedigende Sängerbesetzung: mit Evelyn Herlitzius als Küsterin, aufwühlendes Porträt einer schwer traumatisierten Frau, mit einem Sopran, dessen etwas metallische Schärfe völlig adäquat wirkt, um die gepanzerte Seele strahlen zu lassen; der wunderbar wandelbaren Rachel Harnisch als Jenůfa, keine einfältige Unschuld vom Lande, sondern im ersten Akt von stellenweise fast boshafter Naivität – und darum um so menschlicher; den beiden Tenören Ladislav Elgr als Števa, ein so verführerischer wie erbärmlicher Schwächling, doch selbst der nicht verächtlich oder vorgeführt, und Robert Watson als verklemmt sich windender Laca, ein Grobian und Gewalttäter, der seinem geliebten Mädchen boshaft die apfelrote Wange zerschneidet und schließlich in seiner Liebe und seinem Gutmachenwollen über sich hinauswächst; und all die prima Solisten in den kleineren Rollen, darunter Renate Behle als undurchsichtige Urmutter der ganzen Beziehungsbescherungen (die exakten Familienverhältnisse werden einem ja nie ganz klar) oder Stephen Bronk, Nadine Secunde und Jacquelyn Stucker als selbstgefällige Bürgermeisterfamilie?

Oder das rundum überzeugende Orchester der Deutschen Oper unter Donald Runnicles, der alles gewohnt zuverlässig organisiert, aber zugleich keine Spur von der Trockenheit aufkommen lässt, die man ihm gelegentlich nachsagt; stattdessen hohe emotionale Intensität bei präzisen Synkopen, und im Zweiten Akt, bei dem man von vorn bis hinten den Atem anhält, Blechbläser voller Wärme und Hoffnung und dann wieder voller Schrecken und Entsetzen, wenn sie plärren wie ein lebendiges Kind oder schreien wie eins, das stirbt; vor dieser unendlich langen Pause, die auf den grauenhaften Kindsmord jenseits der Bühne folgt?

Erlöser, abwesend.

Oder doch dieses rundum beglückende Werk selbst, Jenůfa, in dem Leoš Janáček jeden Orchesterklang aus dem Gesang entstehen lässt und den Gesang aus der gesprochenen Sprache? Und eben auch diesen großen, großen Komponisten Leoš Janáček, der alle seine Figuren liebt, selbst die erbärmlichen, und doch stets auf der Seite der Leidenden, vom Unrecht Gequälten steht, vor allem der Frauen – mit einer trotz brennend genauen Blicks unendlichen Barmherzigkeit, welche sich in seiner relativ spät entstandenen ersten großen, großen Oper Jenůfa am Ende noch in unverstellter Religiosität äußert; einer Religiosität, die es später bei ihm zumindest so direkt nicht mehr gibt, ohne dass aber diese grundsätzliche Barmherzigkeit ihm abhanden gekommen wäre, bis in die dunkle Männerwelt der letzten vollendeten Oper Aus einem Totenhaus?

Ist ja ganz egal. Es ist ein großartiger Abend, mit das Schönste wohl, was derzeit an Berliner Opernhäusern zu erleben ist. Tränen fließen unausweichlich, aber man kann ein besserer, liebevollerer Mensch werden durch diese Jenůfa, die es am 17. und 25. und 31. Januar nochmals gibt.

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8 Gedanken zu „Rundum beglückend: Leoš Janáčeks „Jenůfa“ an der Deutschen Oper

  1. Geh nun nicht, da Harnisch singt, die vor zwei Tagen noch als von Danková ersetzt angekündigt war, und ich das Gefühl habe, Danková wäre auch wegen der (annähernden) Muttersprachlichkeit die bessere Wahl. Aber Sie hatten recht, eine sehr sehenswerte Inszenierung, die hoffentlich trotz des Alters noch ein Weilchen im Repertoire bleibt. Falstaff war übrigens recht leer, und der Barbiere (weiß noch nicht, ob ich darüber schreibe) ebenfalls. Keine Ahnung, wie die Staatsoper dann immer auf über 90% Auslastung aufs Jahr gesehen kommt. Ich hab schon mal gehört, dass die Hörplätze nicht mitgezählt würden, war aber vielleicht auch ein Gerücht, aber dann könnt ich die 92% (für 2018 glaub ich) verstehen.

    • Ich gehe heute nochmal hin. Harnisch gefiel mir sehr gut, aber Muttersprache ist natürlich noch was anderes. Allerdings ist Vertrautheit mit dem Idiom nicht alles, wie mir gerade eine ziemlich elende Pathétique der Moskauer Philharmoniker zeigte (gut, kein Gesang, aber trotzdem).
      Ich vermute immer, für die „Auslastung“ sind die Nebenspielstätten, Studiobühnen usw nicht ganz unwichtig … Großes Haus 50 %, Werkstatt 100 % = durchschnittliche Auslastung 75. Aber vielleicht ist das zu böswillig gedacht.

  2. Sie legen die Begeisterungslatte sehr hoch. Da meine Janáček-Hingabe etwas schwächer ist, werde ich ein klitzekleines Stückchen schwächer begeistert sein. Mal sehen. Trotzdem bin ich gespannt wie ein Flitzebogen und geh dann wohl leider erst zum letzten Termin. Die Fotos auf der DO-Seite dürften schon die neuen sein? Gut übrigens, dass die DO die Fotos flott aktualisiert. Und eigentlich ist es ganz nett, wenn so Leute wie Nadine Secunde noch aktiv sind, damals Barenboims Bayreuther Elsa, als ich noch Jimi Hendrix gehört habe und die Pathétique mein ein und alles war.

    • Ja, bei Janáček (immer muss man den Namen rein copy&pasten) gehts manchmal mit mir durch – wenn’s eine gute Aufführung ist, und die ist es definitiv. Runnicles erzählt im Programmheft übrigens einiges Interessante übers Janáček-Dirigieren, bin in der Eile nicht drauf eingegangen.
      Renate Behle, die die Alte Buryja singt, hat in ihrer Laufbahn übrigens auch einige Isoldes und Salomes gesungen.
      Vielleicht geh ich am 31. auch nochmal hin. Am 12. war es erfreulich gut besucht. Neben meinem Sohn saß Aribert Reimann.

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