Könnte man glatt ein bissl enttäuscht sein, dass die Pianistin Anna Vinnitskaya nur ein einziges Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow spielt und nicht alle, wie sie es vor knapp zwei Jahren mit Bartók machte. Allerdings hat Rachmaninow nicht drei geschrieben, sondern vier, und das 3. Klavierkonzert d-Moll op. 30 (1909) dürfte allein schon mehr Noten enthalten als alle von Bartók. Na, vielleicht nicht ganz, aber angeblich 55.000 für den Pianisten, wie man im Zusammenhang dieses Konzerts des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin in der Philharmonie erfährt: Rekord sei das unter den Klavierkonzerten. Wissen, das niemand braucht, trotzdem hübsch.
Im Publikum Wolfgang Thierse, der nach seinem Abschied aus der Politik zwanzig Jahre jünger aussieht. Anna Vinnitskayas Kleid ist zu 2/3 rosa und zu 1/3 schwarz, wie Rachmaninows Musik.
Den Beginn des dritten Konzerts, oft mit einem Volks- oder Kirchenlied assoziiert, spielt sie wie ein etwas trauriges Kinderlied, das sie sich gerade ausdenkt. Doch selbst die gebenedeiten und vermaledeiten Sprünge und Kaskaden des dritten Satzes wirken ein wenig, als erfinde die Pianistin sie eben jetzt. Alles fließt, als wär das selbstverständlich. Unbeschwertes Klavierteufelszeug, immer mit einer Nuance Kindlichkeit. Im dritten Satz wartet man wie im Cartoon darauf, dass der Pianistin eine Hand vom Arm fliegt und die andere sie gerade noch einfängt. Aber es ist alles andere als Virtuosen-Show. Kraft zeigt man nicht, scheint Vinnitskayas Motto, Kraft hat man. Oder frau. Spontaneität und Struktur geben diesem Konzert seine Helle und Leichtigkeit.
Er könne sich nicht vorstellen, dass das bei Argerich je besser gewesen sei, sagt danach eine ganz verzauberte Konzertbekanntschaft; nur halt kämpferischer.
Kindlich mit einem Drittel schwarz auch die Zugabe, die Romanze aus Schostakowitschs Tanz der Puppen (aus der auch die Zugabe vor drei Monaten bei Vinnitskayas Solo-Klavierabend stammte).
Anna Vinnitskayas Einspielung des 2. Klavierkonzerts ist vor kurzem erschienen. Da hat zwar irgendein dahergelaufener Hallodri den Booklettext verzapft. Aber die Musik ist prima.
Bisschen schade fürs Rundfunk-Sinfonieorchester unter Jukka-Pekka Saraste, dass man wegen des Pianistenspektakels, so uneitel es auch ist, zu wenig aufs Orchester achtet. Gegenseitige Sympathie und große Vertrautheit zwischen Orchester und Solistin spürt man in jedem Moment. Das Gebläse scheint mal zu wackeln, sei’s drum.
Denn bei Jean Sibelius blästs und streichts quellwassertiefenrein. In der 6. Sinfonie d-Moll op. 104 und der 7. Sinfonie C-Dur op. 105 gibts, was man in Rachmaninows Orchestersatz ein wenig vermisst, nämlich Klangraffinesse und Instrumentationsglück im Überfluss. Diese Musik ist zu 1/3 rosa, zu 2/3 schwarz und in den Ritzen dazwischen kunterbunt funkelnd.
Jukka-Pekka Saraste dirigiert, wie sichs für einen Finnen gehört, auswendig und nicht übermäßig viel lachend und stets souverän as can be. Die Seelenlandschaftswanderung bildet sich adäquat ab in den mal innig verschmelzenden, mal heftig voneinander abstoßenden Orchestergruppen.
Die nur zwanzigminütige, einsätzige Siebte ist doch ein hehres Wunder: Gipfel der Verdichtung und Gipfel der Schönheit zugleich. Feinjustiert und hochemotional führt das RSB unter Sarastre den Hörer nicht nur ins Paradies der Mischklänge, sondern lässt das existenzielle Wunder von Sibelius‘ Siebter erstehen. Ergreifend.
Könnte man höchstens ein bissl enttäuscht sein, dass das RSB nur zwei Sinfonien spielt und nicht alle sieben. Ach, und am besten auch jene Achte, die Sibelius, wehe, von Depressionen geplagt und von Avantgardisten gemobbt verbrannte. Wie ein todtrauriges Kind.
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