Erschlagungsvoll: RSB und Jurowski spielen Brett Dean, Alban Berg, Schostakowitsch

Dieses Konzert im thematischen Bermudadreieck „Shakespeare / Oper / Frau“ wirkt ein bisschen so, wie Vladimir Jurowski redet: kaum zu stoppen, so dass man sich danach ein bissl erschlagen fühlt – aber niemals zugeschwafelt! Denn alles ist interessant, durchdacht und durchglüht. Und mag auch der eine oder andere Hörer durch die Konditionsprüfung rasseln, das Rundfunk-Sinfonieorchester besteht sie mit Bravour. Und die überwiegende Mehrzahl der Hörer in der Philharmonie wohl auch, und zwar mit Begeisterung.

Was sollte man aber auch weglassen in diesem gut zweieinhalbstündigen Overkill-Programm? Etwa Dmitri Schostakowitschs Hamlet von 1932? Auf keinen Fall. Aus der Schauspielmusik zu einer offenbar überaus sarkastischen Inszenierung von Nikolai Akimow sind ja eh schon einige Nummern gestrichen mit schönen Titeln wie Galopp von Ophelia und Polonius oder Vergiftungsmusik oder Der König verführt die Königin.

Nummern sind es tatsächlich, manchmal nur wenige Takte, Trauermarsch neben Can-Can, Kurt Weill neben Sowjetkabarett. Sie spulen in relativ kleiner Besetzung ab und mit wunderbar abwechslungsreichen Klangfarben, etwa wenn dem Tambourin nacheinander Piccoloflöte, Trompete und Tuba die Aufwartung machen. Herrlich die quetschend-quäkenden Streicher der Schauspieler beim Stimmen der Instrumente. Oder Erez Ofers Geige, wenn Hamlet die Leiche des Polonius trägt. Oder die mannigfaltigen Begegnungen von Klarinette und Fagott.

Einfach mal alle Solisten hervorheben.

Den Dirigenten sowieso: die schneidende Schärfe von Hamlet und die kleinen Jungs ziehen vorbei, die hinreißend präzisen Crescendi der Jagd. Vor allem aber ist da dieser Schuss von ätzendem Irgendwas, der in allem steckt. Wenn im Liedchen der Ophelia (die hier eine betrunkene Hure ist) die tasmanische Sopranistin Allison Bell auftritt, würde man sich vielleicht wünschen, dass sie ihre fabelhafte Gesangskunst ebenso stärker anätzt.

Was also dann weglassen? Brett Deans From Melodious Lay – A Hamlet Diffraction (2016)? Eher nicht. Der australische Komponist wird in der nächsten Saison als Composer in Residence Dauergast beim RSB sein, sollte man sich also einhören. Die Ebene des Orchesterklangs wirkt aufregender als die Gestaltung der Gesangsstimmen, die (diffraction hin oder her) den Text und seine Bedeutung mit recht bekannten Mitteln ausdeutet. Aber über welcher fernen, schwer zu ortenden tönenden Stille das geschieht, das ist schon hohe Orchesterklangkunst – bis hin zu raschelnder Alufolie und dem Rollen einer Kugel in goldener Klangschale. Neben dem starken Tenor David Butt Philip ist hier aber Allison Bells differenzierter, perfekt kontrollierter Gesang rundherum überzeugend.

Und erst recht in Alban Bergs Lulu-Suite (1935). Wer die weglassen wollte, der wäre eh aus der Büchse der Pandora beniest. Und so wie Allison Bell eine wunderbar agile, kraftvolle Lulu ist, so scheint Vladimir Jurowski der vollkommene Berg-Dirigent: weil es wienerisch und modern klingt. (Oft genug ist es entweder wienerisch oder modern.) Wenn Dean das Orchester auf engstem Klangraum ausdifferenziert, so Berg in voller Weite. Das RSB meistert beides famos, das Kraftvolle im Subtilen, das Subtile im Kraftvollen. Perfekt organisiert wirkt das und äußerst klangschön.

Hach, die mahlerschen Streicher im Adagio. Die herzwärmende Klangfülle. Und dieser schaudern machende Orchesterschrei am Schluss.

Also den zweiten Schostakowitsch weglassen, die Fünf Zwischenspiele aus „Lady Macbeth von Mzensk“ (1934) und ihrer revidierten Fassung von 1963 mit dem Titel „Katerina Ismailowa“? Njet und nochmals njet. Denn wie man hier weggepustet wird, das muss man erlebt haben. Nicht nur wenn die 14köpfige Banda aus gemischtem Blech sich auf dem Podium erhebt und das Auditorium durchföhnt. (Da betet man zur heiligen Cäcilia von Mzensk, dass ein paar Funken von Jurowskis musikalischem Feuer auf die Bismarckstraße übergreifen mögen, wenn an der Deutschen Oper im April die Lady Macbeth von Mzensk wiederaufgenommen wird.)

Derart laut zu spielen, ohne dass es je ins Lärmende kippt: das ist eine ebensolche Kunst, wie den Hörer mit lauter interessanten Dingen zu erschlagen, ohne je zu schwafeln. Einzige gelinde Enttäuschung an diesem tollen Abend, dass nicht noch irgendeine klitzekleine Zugabe kommt, Mahlers Zweite etwa oder eine konzertante Salome.

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6 Gedanken zu „Erschlagungsvoll: RSB und Jurowski spielen Brett Dean, Alban Berg, Schostakowitsch

  1. Wäre ich auch hingegangen, wäre Salome nicht gewesen. Die Dauer ist außergewöhnlich. Man hört verschiedentlich von denen, die die Karajanzeiten noch kannten, dass die Programme damals bedeutend (was meistens heißt, erfreulicherweise) kürzer waren. Das hängt wohl damit zusammen, dass eine Sinfonie von Schumann kürzer ist als eine von Mahler, ein Konzert von Mozart kürzer als eines von Schostakowitsch. Wenn ich Sie so höre, muss ich öfter zu Jurowski. Die Münchner haben ihn ja gerade als Petrenko-Nachfolger gewählt, offenbar nicht ohne Grund.

  2. D’accord im Großen und Ganzen und absolut lobenswert, dass sich jemand (VJ) auch mal traut, die grauen Zellen des sonst eher äußerlich ergrauten Publikums zu füttern.
    Das Programm war ausgesprochen gut dirigiert, aber der Berg ist mir persönlich schlicht zu Tutti-lastig, mir fehlt da hin und wieder mal ein radikal anderes Klangbild in der Komposition. Ähnlich, wenn auch ganz anders, der Dean. Der hat mich grudsätzlich positiv überrascht nach dem letzten Stück, das ich gehört hatte. Der Alueffekt war einen Schmunzler wert. Ich fand die Klangzusammenstellungen ganz spannend, aber insgesamt vom Charakter her zu monoton. Dafür war die „Zirkusklammer“ mit den Schostakowitschen völlig überzeugend. Insgesamt war nur das Programm vielleicht eine Spur zu lang für die geballte Energie, die sich da nicht nur in (einer beträchtlichen Anzahl) Dezibell über einen ergoss. Eine kleine Mahler II wäre allerdings in der Tat eine feine Zugabe – oder vielleicht gleich einen ganzen Mahler-Sinfonienzyklus an einem Wochenende?

    • Interessanter Gehörpunkt zu Lulu! Und für den Mahlerzyklus melde ich mich gleich vorsorglich an.
      Übrigens fand ich das Publikum gar nicht sooo ergraut, und die anwesenden Schulklassen haben doch ganz gut durchgehalten.

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