O wunderbarer November, du Monat nicht enden wollender Lamenti, Requiems, Stabant Matres! Ebensogut in den Totenmonat November wie in die Karwoche passt auch Antonín Dvořáks Stabat Mater op. 58, das das Rundfunk-Sinfonieorchester und der Rundfunkchor Berlin unter Dirigent Jakub Hrůša in der Philharmonie aufführen. Ein Kindertoten-Oratorium möchte man es nennen, weil es nicht nur um den gekreuzigten Sohn Gottes geht, sondern auch um die drei kleinen Kinder des Künstlers, die vor und während der Komposition (1875-77) starben. Unvorstellbar, wie ein Mensch mit einem solchen Schmerz weiterleben kann.
Ist dieses Stabat Mater nicht ein seltsames Werk, in dem einiges quer steht? Da sind allein die verstörenden Ausmaße dieser Kompositionen, die doppelt bis dreimal so lang ist wie jedes andere Stabat Mater der Musikgeschichte (so Steffen Georgi in seiner Einführung). Und beißt sich nicht die riesenhafte Besetzung mit dem intimen Gehalt der mittelalterlichen Dichtung und dem tief persönlichen Anlass der Komposition? Auch die doch leiernde Rhythmik der schweifreimigen Terzinen findet man in der musikalischen Aufballung kaum wieder. Am ehesten noch in diesem anderthalbstündigen Quasi-Einheitstempo, einem weiteren Querständer.
Aber gerade weil hier manches so deplatziert und maßlos scheint, springt es einen an, wie hier des Werkschöpfers Seele überfließt. Darum berührt diese Musik so.
Und weil es bei Dvořák die Ohrwürmer im Familienpack gibt, eine Überfülle an melodischen Einfällen.
Und weil das Ganze gut musiziert wird. Es mag, wie man so liest, nicht das allerkomplexest zu singende und zu spielende Werk sein. Aber das zuverlässige Rundfunk-Sinfonieorchester ist mit Herz und Kompetenz bei der Sache. Der Dirigent Jakub Hrůša, Chef der Bamberger Symphoniker, verströmt einerseits wohltuende Sachlichkeit, andererseits spürbare Begeisterung für diese Musik. Die Quadratur des Dirigentenkreises, aus dem dann allgemein ansteckendes Feuer lodert.
Wichtiger noch sind die menschlichen Stimmen. Die beiden männlichen Solisten haben keinen ganz leichten Stand gegen die Frauen. Dem an sich wohlklingenden Bass Jan Martiník geraten gerade die Schlüsse manchmal etwas abgeschnappt. Erklingen die vier Solisten zusammen, grundiert er das Quartett aber sehr schön, während der Tenor Steve Davislim dann zum Überschallen neigt. Auch in seinen Soli wirkt Davislim stimmlich, mimisch und gestisch oft übermotiviert, fast wie die Karikatur von Puccini-Gesang. Allerdings muss man auch das ja erstmal können. Und manchen Zuhörer wird gerade der expressive Überschuss ans Herz fassen. Zumal das auch wiederum zum verqueren expressiven Überschuss dieses Stabat Mater passt.
Gäbe Altistin Elisabeth Kulman ihrem berückenden Alt derart die Sporen, würde die Philharmonie in ihren Grundfesten wanken. Aber tut sie zum Glück nicht, obwohl sie wahrscheinlich locker könnte. Die berührend einfachen Linien im Inflammatus et accensus lassen an Gustav Mahler denken. Wenn Kulman die vollkommenste, ausgewogenste sängerische Leistung zeigt, dann die Sopranistin Simona Šaturová die berührendste. Gerade weil sie keine voluminös „romantische“ Stimme hat: In der Höhe klingt immer eine gläserne Gefährdung mit, während sie in der Tiefe Wärme ausstrahlt. Man möchte mal ohne Ironie das Wort keusch benutzen.
Den Rundfunkchor Berlin schließlich, als eigentlichen Hauptprotagonisten, darf man an diesem Abend gleich doppelt erleben. Ein Genuss, natürlich. Zuerst von Rustam Samedov einstudiert im Stabat Mater so klar und deutlich und gleichermaßen sinnlich, wie man es von diesem fantastischen Chor glatt für selbstverständlich hält. Und dann in einer Art Zugabe, die nur scheinbar quer zum Hauptprogramm steht.
Im Anschluss ans Stabat Mater gibt nämlich die von Benjamin Goodson einstudierte Schola des Rundfunkchors, das Nachwuchsprogramm, noch ein zwanzigminütiges A-cappella-Konzert. Erst ist man skeptisch über dieses (durch Beilegezettel im Programmheft arg spontan kommunizierte) Plus nach dem dicken Brocken, und viele Hörer gehen leider. Dann aber zeigt sich, dass es das Gehörte nochmals verinnerlicht und vertieft – nicht nur weil die ausgewachsenen Choristen sich ins zusammenrückende Publikum mischen. Fast fühlt man sich an den Geniestreich erinnert, den RSB-Altchef Marek Janowski dem Publikum einst spielte, als er nach zwei Beethoven-Sinfonien jeweils noch ein Streichquartett spielen ließ.
Hier gibts einen zarten, innigen Gesang von Zoltán Kodály und bewegende Stücke von Bruckner und György Deák-Bárdos (das Eli! Eli! des sterbenden Christus). Das bringt den intimen Ton direkt herein, der bei Dvořák unter so gewaltigen Klangschichten verborgen liegt. Doch auch die drei von Fünf Gesängen op. 104 von Brahms gehen von Herzen zu Herzen: Wenn so junge, vielversprechende Musiker so anmutig von der Verlorenen Jugend singen, ist man als Hörer, der diese Jugend wirklich verloren hat, doppelt ergriffen.
Das RSB ist wieder am 26.11. zu hören, mit einem hochinteressanten und selten zu hörenden Programm. Den Rundfunkchor kann man am 22.11. im kleinen Rahmen erleben, in der coolen Weddinger Krematoriums-Lounge silent green.