Gedämpft profiliert: Piotr Anderszewski im Boulezsaal

Interessante chemische Versuchsanordnung: der Stimmungskünstler Piotr Anderszewski im Pierre-Boulez-Saal, dem üble Lästerzungen ja Plenarsaal-Atmosphäre nachreden. Wird das gutgehen, fragt man sich vor dem Haus stehend, während Profilierungsfahrer die Französische Straße runterbrettern, ein Blitzermarathon schert ja keinen Totfahrer nicht. In der verblüffenden Aprilsommerabendsonne steht auch Nike Wagner, konzentriert in die Lektüre des Programmhefts vertieft, das Gegenteil eines Profilierungsfahrers.

Und Anderszewski ist wahrlich das Gegenteil eines Profilierungspianisten. Bis zum letzten Moment zimmert er sein Programm zurecht. Was einen bei Kristian Bezuidenhout etwas durchwachsenen Klavierabend neulich noch etwas störte, meint man bei Anderszewski als unausweichlich zu verstehen. Hier wird sogar vor Konzertbeginn per Ansage auch der Einlegezettel im Programmheft korrigiert, diese nun aber wirklich allerletzte Änderung sei Anderszewski in der Vormittagsprobe aufgegangen. Das wirkt nicht wie Achtlosigkeit, sondern wie Skrupulosität. Jeden Moment arbeitet es in ihm, hat man den Eindruck, keine Routine, alles Abenteuer und Suche. Und das Minus von drei Mazurken und der Polonaise As-Dur op. 61 gegen das Plus der 6. Englischen Suite ist zumindest für den Konzertgänger ein guter Deal.

Vor Chopin und Bach aber erstmal Janáček sowie Wolfgang Amadeus Mozart, mit dem’s nun schlussendlich anfängt: die geheimnisvoll zusammengehörigen Fantasie und Sonate mit den Köchelverzeichnis-Anagrammnummern 475 und 457, beide in c-Moll. Das Licht gedimmt, der Ton gedämpft, auch wenn Anderszewski nicht das linke Pedal des Steinwayflügels tritt, was er öfter tut, als man es laut Konzertgängers Sohnemanns Klavierlehrer tun dürfe (nämlich never ever).

Markerschütternde Kontrastwirkungen bringt das hervor, aber (da der Grundpegel so still ist) ohne je laut zu werden. Und trotz aller Dämpfung niemals verschwommen, sondern alles auf gedämpfte Weise hochprofiliert. Die direkt an die Fantasie anschließende Sonate klingt weniger pathétique-affin als bei Bezuidenhout (aber wie klänge wohl die Pathétique bei Anderszewski?), stattdessen verschattet fantasierend, geradezu schubertfantasierend. Und fragte man sich bei Bezuidenhouts Darbietung auf der Kopie eines historischen Flügels von Graf, ob einem das Adagio auf einem modernen Instrument nicht in Zukunft langweilig werden würde, beantwortet sich diese Frage bei Anderszewski mit Nein. Wenn Anderszewski spielt.

Dabei könnten seine extrakleinteilige Gestaltung gerade im Kopfsatz, die Extraportion Rubato, die extralangen Pausen doch auf Dauer gefährlich werden. Das Rondo nun mit Anflügen von gedämpftem Grimm. Und irgendwie ist doch auch fantasierender Mazurkageist dabei. So gleitet’s mit traumhaft zartem Anschlag hinüber in Frédéric Chopins 3 Mazurken op. 56: in die erste in H-Dur wie ein Hineinträumen, während die dritte donnernd beginnt und dann im Traum versinkt. Und wieder ist man in c-Moll gelandet.

Anderszewski spielt mit hochgeschlagenem Kragen, wie um sich vor Menschenbissen zu hüten. Der Flügel wird, anders als im Boulezsaal üblich, in der Pause nicht gedreht: Der Pianist hat wohl lieber die Tür zu den Künstlerräumen im Nacken als das Publikum; sich derart einkreisen zu lassen wäre bei Anderszewski temperamentwidrig. Und der Deckel wird diesmal nicht entfernt vom Steinway (noch so eine Boulezsaal-Eigenheit sonst), sondern nur hochgeklappt. Was für alle, die auf der richtigen Seite sitzen, ein großer akustischer Gewinn ist, für alle auf der falschen Seite vermutlich weniger.

Nach der Pause Buch II von Leoš Janáčeks Sammlung Auf verwachsenem Pfade, fünf Stücke ohne sprechende poetische Titel wie im ersten Buch, aber nicht minder zerrissen, mysteriös, verstörend, betörend. Anderszewski spielt mit überfallartigen Anspannungen. Auf diesen verwachsenen Pfaden ist es nicht geheuer, überall lauert Sinistres oder gar plötzliche Gewalt – aber hinter aller Gewalt und Sinistrität auch schmerzliche Schönheit.

Das vierte Stück zumal ist überwältigend aufregendes Flickwerk, mit schaudern machenden Trillern. Da hört man auch die Triller in der (wieder direkt anschließenden) Englischen Suite Nr. 6 d-Moll BWV 811 von Johann Sebastian Bach ganz anders: nicht als bloße Verzierungen, sondern als ein Zittern. Nicht vor Angst, sondern vor dem Ungeheuren und der Gewalt und der Schönheit.

An Anderszewskis versonnenem, introvertiertem, man könnte auch sagen: romantisiertem Bach scheiden sich gewiss die Geister, und nicht jeden Einwand wird man simpel des Bachspießertums zeihen können. Dennoch. Ist. Das. Wunderbar. Nur als in tiefster Sarabanden-Versunkenheit irgendein Stiesel ein Zuckerl aus der Hülle knistert, wird Hörers Prinzipienfestigkeit gegen Körperstrafen hart geprüft.

Aber auch das ist vergessen, als man danach die in ihren Abstufungen aufregendste Gavotte aller Zeiten zu hören meint. Und erst recht, als sich in der toccatösen Schluss-Gigue der Steinway in eine gedämpft-majestätische Orgel verwandelt.

Befund des chemischen Versuchs: Der Plenarsaal schwebt im Zwielicht. Zumal als der Stimmungskünstler als Zugabe Musik aus dem Jenseits spielt, Beethovens späte G-Dur-Bagatelle aus opus 126. Danach noch was von Bach, wohl irgendeine Fantasie & Fuge. Kurz davor hat Anderszewski die Überbringerin des Blumenstraußes verdutzt angeschaut, so als könne er kaum glauben, dass der für ihn sein soll.

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Ein Gedanke zu „Gedämpft profiliert: Piotr Anderszewski im Boulezsaal

  1. solche gustostücke machen appetit , die fahrt von wien aus anzutreten!!!!!
    könnt‘ aber sein, dass ich ’nur‘ dem stil des kritik-verfassers verfallen bin…….
    danke!war wieder vergnügen pur!!

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