Nachtrund: Quatuor Ebène, Tamestit, Altstaedt spielen Noctürnliches

Genau das richtige Programm, wenn man die vorhergehende Nacht kein Auge zugetan hat, wie der Konzertgänger. Aber nicht deshalb richtig, weil man beim Quatuor Ebène so gut schlafen könnte! Sondern weil man für dieses von nächtlichen Stimmungen und Erlebnissen inspirierte Programm in einer gesegneten Rezeptionssituation ist: Keinen hellen Verstand erfordernden Haydn oder Beethoven oder Brahms gibts im Kammermusiksaal, sondern tiefere Formen von Wachheit – Sciarrino und Dutilleux, Night Bridge und Verklärte Nacht.

Auch Tabea Zimmermann sieht man im Publikum und eine Rundfunkorchesterkonzertmeisterin (die Geliebte des Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitäns). Schade, dass sie nicht mitspielen.

Dafür ergänzen zwei andere hervorragende Musiker das französische Quartett. Doch zu sechst wird erst nach der Pause gespielt, davor addieren sich die Einzelteile: 1 + 1 + 4. Antoine Tamestit trägt Salvatore Sciarrinos Ai limiti della notte (1979) für Viola solo vor, das aus Flageoletts und Glissandi besteht, aber auch aus Glissandi und Flageoletts. Man kriegt die Nachtfalter, wie aufregend Sciarrinos Rumkratzen und Rumwispern am Rand der Stille immer wieder ist. Auch wenn des Komponisten Diktum, dass der Geist sich jeglichem Klangereignis öffnet, auf geduldigem Papier steht, denn er öffnet sich natürlich auch etwelchen Hörstörungen. Das Stuhlknarzen amalgamiert sich noch organisch in Sciarrinos Klangwelt, das leise Quasseln schon weniger. Thank you for, as far as possible, not coughing.

In einer etwas engeren Umlaufbahn ums taghelle Bewusstsein bewegen sich dann Henri Dutilleux‘ Trois Strophes sur le nom de Sacher (1976/82), die der Cellist Nicolas Altstaedt spielt. Auch hier noctürnale Schwellenklänge, aber ebenso Passagen, die ihre Gleichzeitigkeit mit Led Zeppelin hören lassen. Von Tamestit und Altstaedt, die am oberen, äußeren Rand des Podiums spielen, bewegt sich die Musik dann in die innerste Umlaufbahn zum Quatuor Ebène, das Dutilleux‘ Ainsi la nuit (1973-77) spielt. Die Homogenität dieses Quartetts ist, wie der Schweizer sagt, bäumig. Eine nächtliche Kuppel rundet sich über dem Hörer, der die Augen schließt; und immer wieder von heftigen Eruptionen im Dunkel erschüttert wird.

Erste Hälfte im Fastdunkel, zweite bei vollem Licht. Die vereinzelten Klangkörper haben sich nun zu einem einzigen verdichtet. In diesem Konzert gibt es zwar keine Kammermusik-Standards von Wiener Klassik bis Bartók, aber Jazzstandards von Cole Porter bis Thelonious Monk: für Streichsextett, unter dem Titel Night Bridge von den Ebènes selbst arrangiert. Die Jazzstücke tauchen wie von ferne auf, hinter einem Vorhang der Erinnerung. Das sind Reflexionen im doppelten Sinn, einerseits lunar leuchtend und funkelnd, andererseits sehr transzendierter Jazz. Aber die New York Times konstatiert, das Quatuor Ebène könne sich mühelos in eine Jazzband verwandeln, und die New York Times ist die New York Times.

Und der unmerkliche Übergang von Monks Round Midnight (das Konzertgängers Sohn seit Wochen auf dem Blüthner übt) in Arnold Schönbergs Verklärte Nacht tönt wumbaba, wie der sentimentale Hipster sagt.

Existiert irgendein Kammermusikstück, das man lieber in der orchestrierten Fassung hören möchte? Manche bieten als Kandidat die Verklärte Nacht an, aber hört man wieder mal die originale Sextettfassung, mag man nicht zustimmen. Der frühromantische Schönberg ist zwar nicht gerade ein Aphoristiker, die entwickelnden Variationen hören gar nicht auf sich zu entwickeln. Aber wie das atmet und sich fortspinnt, ohne jede Streichorchester-Seifigkeit! Zumal Pierre Colombet (1. Geige) und Marie Chilemme (Bratsche) bringen den Schönberg-Blues mit. Kurios anzuschauen die beiden Cellisten nebeneinander, Raphaël Merlin mit doppelter Stachellänge wie Altstaedt, der aus der Tiefe des Tons intoniert, irgendwo zwischen Knie und Hüftgelenk, während Merlin aus Brusthöhe kommt. Am Schluss lassen alle sechse den einen großen, leuchtenden Vollmond aufgehen. Runde Sache.

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