Schön, dass es sie überhaupt gibt. Aber dass die neuen Fahrradständer vor dem Haupteingang längst nicht ausreichen, zeigt sich besonders deutlich, wenn Besuch aus der Weltfahrradhauptstadt kommt. Dabei ist die Philharmonie schändlich unausverkauft, so als spielte hier die ADFC-Kapelle Wanne-Eickel und nicht eins der besten Orchester der Welt: das Amsterdamer Koninklijk Concertgebouworkest (was viel hübscher ist als „Royal Concertgebouw Orchestra“). Letztes Jahr mit Manfred Honeck war der Auftritt eher solide, vor zwei Jahren mit Gatti doch arg enttäuschend. Heuer aber dirigiert der geschätzte Tugan Sokhiev. Vor Tschaikowsky gibts den Niederländer Louis Andriessen, der dieses Jahr 80 wird, was die Berliner Musikwelt noch weniger jubiläumiert als den 150. Todestag von Hector Berlioz; außer eben beim Musikfest. Ist Andriessen ein guter Komponist?
Kommt wohl auf den Hörwinkel an. Jean-Noël von der Weid schreibt in seinem komplett unverständlichen (oder vom Insel-Verlag entstellend übersetzten?) Kompendium „Die Musik des 20. Jahrhunderts“ ja sehr lustig: Mit Bedauern ist man geneigt zu denken, dass in der niederländischen Musik des 20. Jahrhunderts nichts Eigenständiges entsteht. Außerdem zeigen die Holländer eine große Gleichgültigkeit gegenüber der vergangenen Musik. Alex Ross bescheinigt hingegen in seinem Bestseller „The Rest Is Noise“ Andriessen eine emphatisch pulsierende, vom Pop geprägte Sprache und nennt ihn den einzigen wichtigen Minimalisten Europas. Ob das ein hilfreiches oder nicht eher doch ein tödliches Etikett ist, sei mal dahingestellt.
Jedenfalls scheint Louis Andriessens Musik für theoriegegerbte Naserümpfer eher nix, wohl aber für Hörer, die sich mitziehen lassen wollen, ohne erst dünnluftige Theorieschwellen und dornige Exposédickichte überwinden zu müssen. Die halbstündigen Mysteriën beginnen mit einer mächtigen Klangwand, die sich alsbald verneblisiert. Bei sowas stellt sich nicht mehr die Frage, wozu heute noch „großes Orchester“. Andriessen schrieb dieses Werk nach langer Symphonieorchester-Abstinenz 2013 fürs Concertgebouw. Es gibt nachvollziehbare Intervalle und viele Stellen, wo man bis 3 oder 4 mitzählen kann, und direkt in den Körper gehende rhythmische Muster; und überhaupt ist das zwar nicht gefeit vor seichten Momenten, aber niemals dümmlich und schon gar nicht einschläfernd, sondern von hohem Klangreiz.
Themen aus dem mittelalterlichen Buch De imitatione Christi von Thomas a Kempis liegen den sechs Sätzen der Mysteriën zugrunde. In Was die Wahrheit uns sagt ohne den Lärm der Worte entsteht ein mystisch schaukelnder Ruhepunkt zwischen drei Harfen und zwei Klarinetten, zwei Geigen und einem Klavier, bis man am Ende als Hörer mit der Flöte atmet. Am Beginn des Satzes Von den Prüfungen eines wahren Liebhabers begegnet ein berührendes Zeitlupenmelos, mit dem Andriessen von fern ein Lied seines Vaters zitiert, des Komponisten Hendrik Andriessen.
Zwei weitere Andriessen-Termine gibts noch beim Musikfest: Am Mittwoch kombiniert ihn das Ensemble Modern mit Edgard Varèse und Olga Neuwirth, am Donnerstag das Orchester der BBC ebenfalls mit Neuwirth sowie Mussorgsky und Sibelius.
Letztere Kopplung ist dann schon nah beim Concertgebouw, das Peter Iljitsch Tschaikowsky anschließt. Und seien wir ehrlich, Tschaikowsky mit Tugan Sokhiev wär wahrscheinlich sogar dann sensationell, wenn Sokhiev die ADFC-Kapelle Wanne-Eickel leitete. Wie sich die fließende Körpersprache dieses Dirigenten in Klangereignis übersetzt, ist immer wieder eine Freude. Und so klingt das Concertgebouw in diesem Jahr, wie man sich Concertgebouw erträumt: In Tschaikowskys 1. Sinfonie g-Moll „Winterträume“ atmet jede Figur, die Streicher sind weich, aber nie wattig, das Blech betörend, die Holzbläser so beredt wie emotional: Das Solo der Oboe im zweiten Satz, umspielt von Flöte und Fagott, ist von überirdischer Ausgewogenheit. Schärfen aber werden niemals zum Verrat an der Schönheit. Es ist eine Wärme des Klangs, die einfach glücklich macht.
Besonders hervorzuheben wäre, dass es hier (im Unterschied zu einigen anderen Spitzenorchestern und Dirigierstars) niemals zu laut wird. Selbst die entfesselte Freude des Jubelfinales gerät nie in die Nähe einer tösenden Entgleisung. Und ganz subjektiv dies: Tschaikowskys Erste ist ein Stück, an dem dem Konzertgänger vorher überhaupt nichts lag. Hier erlebt er es als die größte Seligkeit auf Erden. Und dafür geht er so gern ins Konzert.