Musikfest 2018: Aimard stockhaust

Nach Bernd Alois Zimmermann jetzt ein Kalle Stockhausen-Schwerpunkt beim Musikfest. Schön, weil die beiden einst als Antipoden galten. Stockhausen hatte wohl den Längeren damals (Hebel natürlich), so rein musikmachtpolitisch. Aber der Wind scheint sich gedreht zu haben, wie die Tendenz einer aktuell noch laufenden repräsentativen Twitter-Umfrage des Konzertgängers zeigt:

Der Stockhausen-Fokus des Musikfests ist zugleich ein Pierre-Laurent Aimard-Fokus. Denn der bestreitet drei der vier Stockhausen-Konzerte. Zwei davon mit Partnern, das erste aber am Donnerstagabend im Kammermusiksaal vaterseelenallein: elf Klavierstücke, alle entstanden zwischen 1952 und 1956 (von einzelnen Revisionen in den 60er abgesehen).

Erstaunlich, dass der damals so zwischen den Stühlen sitzende und leidende Zimmermann einen heute derart direkt anspringt, während dieser damals so allerletzte Schrei von Stockhausen heute was derart Historisches hat. Zumindest was die ersten acht Stücke angeht. Oder eher märchenhaft als historisch? Dazu passt dieser alte Herr, der vor dem Konzert im Foyer seiner Frau mit sonorer Stimme aus dem Programmheft vorliest wie aus  einem Märchenbuch:

Anfangs war Stockhausen besessen von der Idee totaler Einheit – durch die Verwendung identischer Proportionen für jeden der so genannten Parameter (Tonhöhe, Tondauer, Dynamik usw. sowie formale Proportionen) -, doch Mitte der Fünfzigerjahre experimentierte er bereits mit der simultanen Verwendung verschiedener Proportionen bzw. Zahlenreihen.

Halb Geschichtsschreibung ist dieses Konzert also und halb Märchenstunde aus der Zeit, als das Fortschreiten noch geholfen hat. Und hat nicht auch Aimard etwas von einem Märchenerzähler der neuen Musik? Das ist ja keineswegs schimpflich und schon gar nicht mit einem Märchenonkel zu verwechseln.

En garde, Parameter vs Hörer!

Allein Aimards Erscheinung verleiht den durchdeterminierten Klavierstücken I bis IV menschliche Wärme. Ohne Aimard wären sie dem Konzertgänger unerträglich, so sind sie immerhin lediglich quälend. Die Parameter gehen ihm auf den Senkel. Aber Geschichtsschreibung muss ja keinen Spaß machen.

In Nummer V findet Konzertgängers Ohr immerhin sowas wie Phrasen und es entstehen Sonanzen. Ob Ass- oder Diss-, ist ihm ja egal, Hauptsache ein Klang. Noch interessanter wird ihm die Chose mit den Stücken VII und VI, die Aimard an den Schluss des ersten Programmteils stellt, sehr sinnig nach Nummer VIII mit ihrem dunklen Klangnebel zu Beginn. In Nummer VII ergeben sich durch stumme Tastenwechsel reiche Obertonresonanzen, die dem Ohr nach den zuvor durchlittenen Maschinismen heftige Wollust verursachen. Und bei Nummer VI kann man dem Pianisten schön über die Schulter schauen und mitlesen, wie da in einem durchlaufenden dritten System mit pseudowissenschaftlicher Verlaufskurve akribisch die zu spielende Lautstärke eingezeichnet ist. Wirft freilich die Frage auf, wozu es da noch einen menschlichen Pianisten braucht.

Unerwartet aufregend und aufregend unerwartet für den Stockhausen-Klavier-Neuling dann die letzten drei Klavierstücke nach der Pause. Erst XI, absichtslos aus Notengruppen zu wählen, dann IX: Heftige Akkordwiederholungen von archaischer Wucht und Lust, Momente pianistischer Eruption, energiegeladene Triller, heraufschnellende kleine Gestalten aus der Tiefe. Wurden die stummen Flehgebete des Hörers an den Geist von Skrjabin & Co vor der Pause erhört?

Zu Nummer X, dem gewaltigen Schlussstück des Abends, zieht Aimard dann weiße, fingerkuppenfreie Handschuhe an. Die scheinen arbeitsschutzrechtlich bei derart heftigen Clustern auch geboten. Atemberaubend aber, wie klanglich und rhythmisch präzise man mit den kompletten Unterarmen dröhnen kann. Das wirkt wie die Feux d’artifice der Darmstädter Moderne. Und der Weg vom ultrakurzen Krypto-Webern-Stück III von 1952 bis zu diesem Koloss 1954 verrät ja Ungeheuerliches über Stockhausens beängstigende schöpferische Explosivität, seinen kreativen Rausch dieser Jahre.

Gibt es einen lustigeren, lebendigeren Strukturdenker am Klavier als Aimard? Nach dem Konzert zählt er durchgeschwitzt die Blumen im Strauß – ja, es sind elf, genauso viele wie die Klavierstücke. Noch zwei Stockhausenlieferungen gibts mit Aimard: Am Samstag so Elektronikpionieriges, das dünkt den Konzertgänger noch geschichtsschreibrig-ferner. Und am Montag vierhändig-ringmoduliertes Mantra mit Tamara Stefanovich und Marco Stroppa, das riecht märchenhaft. Zum Musikfest-Abschluss am Dienstag dann noch Stockhausen mit großem Orchester und rituellem Tanzmimen-Pipapo.

En garde, Bra vs Bru!

Das historische Antipodentum Zimmermann-Stockhausen indes ist für heutige Ohren wohl belanglos.

(Freilich, was sagt es uns über ein anderes antikes Paar unfreiwilliger Antipoden, dass beim Musikfest 2018 so viel Bruckner gespielt wird, aber null Brahms?)

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3 Gedanken zu „Musikfest 2018: Aimard stockhaust

  1. Und jetzt hier auch nochmals gelesen. Ich bin leider ganz davon abgekommen, Solo-Klaviermusik zu Hause zu hören. Aber wegen Stockhausen vielleicht doch wieder trotz verschiedentlicher Bedenken in Ihrem Text.

  2. Guten Abend, ich war gestern bei den Philharmonikern, um das Violinkonzert von Zimmermann zu hören. Dolles Ding! Wenn Gergiev den Zimmermann in Russland einführen will, dann sollte er das Violinkonzert mitnehmen. Also, MEIN Schwerpunkt in diesem Jahr war beim Musikfest der Herr Z. und ich habe mir einen Komponisten in den ersten Anfängen erschlossen, den ich bisher nicht kannte. Folge: Ich werde in alle Zimmermanns rennen, die ich so kriegen kann.

    An Stockhausen habe ich mich noch nicht gewagt. Der arrogante – oder musikmachtpolitische Ruf, den er hat – hielt mich bisher immer ab. Aber das ist eigentlich dumm, denn würde ich diesem Ruf stets folgen, dürfte ich auch Wagner nicht hören. Und was wäre mir da entgangen…

    • Sehr gute Folge. Für mich das Bewegendste bleibt „Stille und Umkehr“, aber eigentlich ist alles von Zimmermann hörenswert, glaube ich. Am schwierigsten vielleicht die meines Erachtens sehr zeitgebundenen theatralischen Sponti-Elemente oder wie man das nennen will, z.B. in der Ekklesiastischen Aktion, aber die wurden bei Gergiev ja auch einfach weggelassen.
      Keine Angst vor Stockhausen. Zum Einstieg vielleicht was anderes als frühe Klaviermusik, eher Donnerstag aus LICHT oder so. Wer Wagner mag, kann auch Stockhausen verfallen.
      Zum Philharmoniker-Konzert gehe ich zum letzten Termin am heutigen Samstag Abend. Freu mich drauf, äußerst reizvolles Programm.

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