Zwischen vielen Stunden Stockhausen beim Musikfest was vergleichsweise Tiefenentspannendes: zum Beispiel einen dreistündigen Stummfilm über die Grauen des Ersten Weltkriegs. Live begleitet vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, dem filmorchestrigsten unter Berlins Spitzenorchestern. Auf 4:3-förmiger Leinwand (die für 16:9-deformierte Fernsehaugen fast quadratisch wirkt) gibts J’accuse von Abel Gance, entstanden zwischen August 1918 und März 1919 – ein filmisches Meisterwerk voller Widersprüche: schonungslose Darstellung des Krieges sowohl als auch patriotische Aufforderung zur nationalen Einheit, Naturalismus und Surrealismus vis-à-vis und eine melodramatische Ménage à trois überdies. Eine Musik des Lichts, wie Abel Gance sie postulierte, und alles in allem ein pazifistischer Film, wie Philippe Schoeller findet, dessen neu komponierte Musik für großes Orchester Frank Strobel im Konzerthaus dirigiert.
Schoellers Musik gefällt, auch wenn man beim Hören staunt über die Namen, die sein Schaffen laut Biografie geprägt haben: Neben dem Studium bei Pierre Boulez werden da Franco Donatoni, Xenakis, Dutilleux, Lachenmann, Elliott Carter genannt. Es gibt Momente im Einsatz von Elektronik und virtuellem Summ-Chor, die eher an Vangelis als an Boulez erinnern. Freilich, hier ist Kino, nicht Darmstädter „Ferien“kurs.
Auffällig ist, dass Schoeller sich gewissen Stummfilm-Usancen verweigert (die freilich sonst mit gutem Grund üblich sind): dem Einsatz von Leitmotiven etwa, mit denen der Film selbst viel arbeitet, sei es die Unheil verkündende Eule oder der durchaus überstrapazierte Satz J’accuse! Oder in der Handlung begegnende Musik praeter propter realistisch aufzunehmen, rhythmisch zumal – etwa im Dorffest zu Beginn, wo ein Zwischentitel explizit auf Bizets L’Arlesienne verweist. Auch die komödiantischen Züge scheint Schoeller links liegen zu lassen: etwa die glühende Homo-Erotik zwischen den beiden (Frankreich verkörpernden) Rivalen François und Jean, die dieselbe Frau lieben und nun im Schützengraben einander näherkommen. Oder den überaus heiteren Hopsetanz der Soldaten mit Gasmasken aus Anlass der Rückkehr ebenjener geliebten Edith, François‘ Ehefrau, die von den pickelhaubigen Hunnen verschleppt worden war.
Aber die Musik hat einen mitziehenden Fluss und auch eine überzeugende Großdramaturgie.
Im ersten der drei Akte scheint sie fast zu subtil. Das passt freilich zur atemberaubenden Bild- und Lichtkomposition von Abel Gance, der etwa Jeans Gedichtrezitationen mit hochartifiziellen Bildern wiedergibt, Zeichnungen, Reflexionsstudien des Meeres und der mediterranen Sonne, Überblendungen, Doppelbelichtungen. Überdeutlich hingegen Schoellers Kommentar, wenn sein Soundtrack der patriotischen Mobilmachungsszene nicht mit Marseillaise-Verschnitten, sondern mit schneidenden Schreckensklängen begegnet. Setzt sich die Musik da nicht allzu bevormundend über das Bild?
Im zweiten Akt rumst es dann oft ganz gewaltig, dramatisch, manchmal plakativ. Das ist stark, wenn es gerade zur Explosion eines deutschen Munitionslagers ausbleibt, um erst danach die seelische Explosion der Figuren zu verdeutlichen. (Dass das Timing so gedacht ist, davon darf man bei Frank Strobels äußerst kompetentem Dirigat ausgehen.) Bei andernortigen emotionalen Aufwallungen kann das heftige Rumsen aber auch ins Banale kippen.
Im krassesten dritten Teil des Films ist dann auch die Musik am packendsten. Schreckensbilder treffen auf Schreckensklänge, heftige Lärmballungen auf Stille, die in der Seele des Zuschauers am aufwühlendsten dröhnt. Das entspricht den Kontrastmontagen, die Gance im Film setzt: Da sehen wir zuerst die bizarre Gestalt eines mythischen Galliers, der die abgekämpften französischen Soldaten nach vier Jahren Schützengraben frischauf ins Gefecht führt – und, wie um diesen Hurra-Patriotismus sofort zu stoppen, die beklemmende Szene, in der ein Haufen Dorfkinder die dreijährige Angèle demütigt und quält, die Tochter der von Deutschen vergewaltigten Edith. Auch ein Feindeskind, scheint Abel Gance uns zu sagen, ist nie ein Bastard. Ein Kind ist immer ein Engel.
Am Ende gibt es eine eindrucksvolle Auferstehungsvision der toten Soldaten, die freilich ambivalent ist: Sie changiert nämlich zwischen großem Menschheits-Pathos und kleinlichen Wut-Zombies, die das Benehmen an der Heimatfront prüfen wollen. Voller Raumklang nun mit Elektronik (Gilbert Nouno) und Eso-Chören. Zum Schluss die endlos scheinende Wiederholung unmerklich anschwellender Cluster, rituell und hypnotisch. Das Ganze, während der Überlebende der beiden Rivalen, der wahnsinnig gewordene einstige Dichter Jean, die Sonne verflucht, die über all den Gräueln leuchtet: die ungeheuerliche Verfinsterung der Welt am Ende eines Films, der zu Beginn und immer wieder in seinen Bildern das Licht feierte.
Das Orchester sitzt drei Stunden lang als große Schar von kleinen Pöppeln unter diesen Bildern: Ein leuchtendes Riesenorchester ganz im Dienst eines filmischen Meisterwerks, an dem alles plus grand que la vie ist und zugleich menschlich, glanzvoll und elend menschlich.
Dass das RSB Berlins filmorchestrigstes Spitzenorchester ist, kann man bereits am kommenden Wochenende erneut überprüfen: Am 22.9. begleitet es, gemeinsam mit einem Gamelan-Ensemble, den modernen Stummfilm Setan Java (Der javanische Teufel).
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