Musikfest 2018: Gergiev ekklesiastiziert

Vierfalt berührender Kenntnisnahmen in diesem Konzert mit zwei letzten Werken, das dennoch eine Fallhöhe sondergleichen erlebt, und zwar nicht im göttlichen  Sinn eines brucknerschen Oktavsturzes. Von Bruckner stammt das zweite letzte Werk an diesem Abend.

Erste berührende Kenntnisnahme aber: Valery Gergiev wagt sich mit seinen Münchner Philharmonikern an Bernd Alois Zimmermann. Spielt ihn nicht nur mit beim Berliner Musikfest, wo Zimmermann dieses Jahr ein Schwerpunkt ist, sondern will ihn auch nach Russland bringen, erfuhr man, wo er völlig unbekannt sei.

Die zweite berührende Kenntnisnahme ist diese im allerhöchsten Sinn bundesdeutsche Arbeitsmoral von Bernd Alois Zimmermann, der im Sommer 1970 sein Werk Ich wandte mich um und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne – Ekklesiastische Aktion für 2 Sprecher, Bass-Solo und Orchester gewissenhaft fertigkomponierte und noch den Dirigenten Hans Zender anrief, um „eine Menge präziser Angaben über aufführungstechnische Details“ zu machen – bevor er sich, von Krankheit und Depression gemartert, das Leben nahm. Das Werk war ein Auftragswerk der Stadt Kiel anlässlich der Olympischen Segelwettbewerbe 1972 – und das ist das dritte berührende Faktum, das man hier zur Kenntnis nimmt.

Eine Provinzologie großer Werke könnte man nämlich bei diesem Musikfest schreiben: Zimmermanns vor zwei Tagen zu hörendes Photoptosis war ein Auftragswerk der Stadtsparkasse Gelsenkirchen, und Mahlers Dritte, gestern vom Boston Symphony Orchestra gespielt, wurde seinerzeit in Krefeld uraufgeführt. Nun also Kiel.

Drei im Saal verteilte Posaunen nehmen in der Ekklesiastischen Aktion das Publikum auf den teuren Plätzen in die Zange: Wer in Block A sitzt, dem bläst quasi der jüngste Atem ins Genick. Die Posaune rechts eröffnet.

Das Orchester auf der Bühne bleibt zunächst im Hintergrund. Vier Männer ziehen stattdessen alle Aufmerksamkeit auf sich. Da ist natürlich Gergiev selbst. Man mag über seine Eitelkeiten und Putindienelei denken, was man will. Aber wie er sich da mit rundem Nacken über die Partitur senkt, die auf sehr niedrigem Pult liegt, wirkt er wie ein aufrichtig gebeugter Diener der Musik. Ein anderer Diener beugt sich aufrichtig in die andere Richtung, an Gergiev vorbei: Der Bariton Georg Nigl windet sich über dem Notenpult, klammert sich immer wieder fest, als drohte er hineinzustürzen – und singt seinen Text aus Kohelet, Kapitel 4 mit einer Inbrunst, ja Ekstase, die einen beim Zuhören und Sehen mitversehrt und verzehrt. Der erste Sprecher Michael Rotschopf spricht in expressiver Deutlichkeit großteils die gleichen Texte, was sie nicht redundant macht, sondern ihre Wirkung potenziert: Unrecht, Mühsal, Einsamkeit einmal gesprochen, einmal gesungen.

Josef Bierbichler aber sitzt. Als zweiter Sprecher trägt er den Großinquisitor vor, und zwar in einer Intensität, dass man meint, den heißkalten Atem des Greises zu spüren, wenn er den wiedergekehrten Christus fragt: Warum bist du gekommen, uns zu stören? Der entsetzliche Gottesmann, der aus Menschenliebe mit dem Teufel ist. Wer Bierbichler gehört hat, wird Dostojewski von nun an mit bayrischem Einschlag vernehmen.

Das Orchester ballt sich mehrmals kurz und heftig zusammen, wird aber großteils nur punktuell eingesetzt. Auch das aber mit manchmal ungeheurer Wirkung: etwa wenn einer der Perkussionisten Nägel ins Holz (ergänze: des Kreuzes) schlägt. Das ist, wie der zitierte Bachchoral Es ist genug vor dem letzten Schmerzensschrei dieses Stücks, mehr als man erträgt.

Denn das ist die vierte und größte Kenntnisnahme an diesem Abend, die Berührung durch Zimmermanns letztes Werk ist tiefe seelische Erschütterung.

In Anton Bruckners 9. Sinfonie d-Moll nun könnten sich, würde man denken, die Münchner Philharmoniker mit ihrer bedeutenden Brucknertradition so richtig entfalten.  Doch obwohl Gergievs Charisma etwas Elektrisierendes hat, ist die Aufführung aufs Ganze gehört von einer haarsträubenden Nachlässigkeit. Der Klang wird oft matschig, scharfe Akzente sind hoffnungslos abgestumpft, Motive und Gegenfiguren werden verschluckt.

Es macht einen ratlos. Unterwegs also nachdenken, was sich Positives finden ließe: Ist das nicht auch ganz schön, so ein Bruckner ohne Transparenzjägerei, mal kein Eindruck von Orgel und Architektur, dafür mit dichtem Klang, breitem Strich, Rubati auf kleinem Raum, dass man manchmal meint, man höre Tschaikowsky (und zwar von Gergiev dirigiert)? Und es ist ja nicht so langweilig wie Gattis Neunte mit dem Concertgebouw 2017, Gergiev kann ja Klänge binnen eines Ohrenblicks magisch anschwellen lassen. Vielleicht hätte dieser Bruckner mit mehr Sorgfalt fürs Klangbild Potenzial?

Beim Musikfest gabs nun dreimal Bruckner in fünf Tagen, bisschen viel, aber hat den Konzertgänger ja niemand gezwungen hinzugehen. Die Neunte hat er indes zuletzt in der Version mit rekonstruiertem Finale von Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern gehört. Und die hat, neben vielen anderen, auch diese bleibende Wirkung hinterlassen, dass einem die verklärte, verklärende Andacht vergangen ist, wenn bei Gergiev die Sinfonie mit dem dritten Satz endet, wie üblich, im Leisen: Da spürt man keinen sich schließenden Kreis, sondern eine klaffende Wunde. Das fehlende Finale, dieses ungeheure Loch am Ende der Zeit. Und nicht nur, weil sowohl die Neunte als auch die Ekklesiastische Aktion letzte Werke sind, sondern auch in dieser schmerzlichen Verwundung berührt sich Bruckners wirklich Unvollendete mit dem Schmerzensmann Bernd Alois Zimmermann.

Zum Konzert  /  Mehr über den Autor  /  Zum Anfang des Blogs

4 Gedanken zu „Musikfest 2018: Gergiev ekklesiastiziert

  1. Ich war auch in diesem Konzert. Einmal, weil ich immer gehen muss, wenn Bruckner gespielt wird. Aber dieses Mal auch, weil mich Zimmermann interessierte, von dem ich bisher noch nichts gehört habe. Also war ich in allen Zimmermann-Bruckner-Konzerten des diejährigen Musikefestes und bin äußerst angetan. Zimmermann ist eine echte Entdeckung für mich. Und die Eklesiastische Aktion am Freitag war trotz ihrer Schwere ein berührender Höhepunkt – vor allem der Bassbariton Nigl hat mich umgehauen. Der LEBTE die Bibeltexte sozusagen. Der Beifall war lange und stark – das freute mich sehr für alle Mitwirkenden.
    Die Neunte von Bruckner dagegen, ich weiß nicht. Ich ertappte mich dabei, an Jochum zu denken – und war nicht so ganz bei der Sache. Bemerkenswert fand ich, dass Gergiev den ersten Satz eher verhalten nahm. Andere drücken da mehr auf die Tube. Spätestens ab dem zweiten Satz hatte er mich dann aber und hielt mich auch für den Rest bei der Stange. Die lange Stille nach dem letzten Ton bewies ja doch, dass beim Publikum irgendetwas angekommen ist. Obwohl ich dieses Mal für mich nicht so wirklich sagen konnte, was eigentlich genau.

    • Ich hatte immer wieder kurz das Gefühl, es könnte trotz der Undeutlichkeit was rüberkippeln, dass ich Gergievs Bruckner doch was abgewinnen kann. Aber ist nicht rübergekippt.
      Das Orchester ist an sich prima, schöner Streicherklang zumal.

  2. Passt zwar nicht, aber das muss ich jetzt loswerden.
    Sie haben ja schon oft das undisziplinierte Publikum gegeisselt. Aber was ich ich eben erlebt habe, haben Sie bestimmt noch nicht erlebt.
    Sehe gerade die Aufzeichnung der 3. Mahler aus Salzburg unter Nelssons. Da kommen die beiden Solistinnen nach dem ersten Satz aufs Podium, und das Luxuspublikum klatscht………

Schreibe einen Kommentar