Musikfest 2018: Stockhausen führt durch

Karlheinz ist nach wie vor nicht nur die beliebteste Unterhose des deutschen Mannes, sondern auch der Deutschen kontroversester Lieblingsavantgardist, verehrt und geschmäht. Insofern schlüssig, dass das bundeshauptstädtische Saisoneröffnungs-Musikfest mit einer exuberanten Stockhausen-Coda schließt. Das beweist Mut zur Anti-Klimax, so rein saalfüllungs- und ein bisschen auch stimmungsmäßig. Zwei Abende Stockhausen pur also nach zuvor drei Bruckner-Sinfonien, einmal Mahler, so viel aufwühlendem Zimmermann, erlesenem Boulez, Debussy, Ligeti etc pp.

Der zweite und letzte Abend mit Inori und der Lucerne-Festival-Akademie unter Peter Eötvös wird sich als Feinripp mit Eingriff ins Transzendentale entpuppen. Aber der erste Abend mit Mantra für zwei Klaviere und Ringmodulation (1970) ist dem Konzertgänger ein Liebestöter.

Dabei muss man den Pianisten Pierre-Laurent Aimard einfach lieben. Und seine Partnerin Tamara Stefanovich scheint ebenso liebenswert. Hochkompetent ohnedies! Selbiges gilt auch für den Klangregisseur Marco Stroppa. Wer also killt hier die Erotik?

Die Ringmodulation.

Stockhausen schreibt 1972 dazu, es habe jeder der beiden Pianisten links neben sich ein Gerät, in dem ein Mikrophonverstärker, ein Kompressor, ein Filter, ein Ringmodulator, ein Sinusgenerator mit Skala und ein Lautstärkeregler eingebaut sind. Die Klavierklänge werden üpber zwei Mikrophone verstärkt und mit Sinusschwingungen ringmoduliert. Hinter jedem Klavier stehen in einigem Abstand Lautsprecher, die den modulierten Klang gleichzeitig zum gespielten Klang wiedergeben. Der modulierte Klang soll etwas lauter sein als der Originalklang.

Ist er auch. Aber klingt das nicht so wie der Albtraum aller sterbenden Klavierstimmer: in der Hölle 24/7 so ein Geklirre hören zu müssen? John Cage verspielzauberte sein Klavier mit kindlichen Fummel-Präparationen, Stockhausen aber verhässlicht es bloß mit diesem elenden Sinusgeknarze.

Freilich ist die Musik nicht kraftlos. Der tremolierende Nachhall hat was Hübsches von Raumbredouille Orion. Anfangs entsteht ein gewisser Sog durch leicht verfolgbare Motivzellen. Und wenn Aimard und Stefanovich sich später ein Duell mit so einem Mini-Motiv aus an die Ränder der Tastaturen springenden Händen liefern, dann wird im Kammermusiksaal sogar, stockschwerenot, gelacht, als wärs Kurtág und nicht der Heilige Karlheinz.

Aber zu sehen, wie die beiden trefflichen Pianisten immer wieder auf Holzstäbchen und Glöckchen klöppeln müssen, wie es jeder könnte, tut doch weh. Und wenn man im Lauf von 75 Minuten anfängt, die Haare auf dem Kopf seiner Vorderfrau zu zählen, weiß man, dass einen die Sache nicht recht fesselt.

Am schönsten ist Wolfgang Rihms Beschreibung des Mantra als eines Schlüsselstücks, von dem aus er weit in die Vergangenheit begriffen habe: permanente Durchführung sei das, die eigentliche Traumphase seriellen Komponierens.

Derart durchgeführt sich fühlend, genießt der Konzertgänger umso inniger, geradezu doppelrippig die erheblichen sinnlichen Reize von INORI – Anbetungen für zwei Tänzermimen und großes Orchester von 1973/74. Das beginnt mit scheinbar statischen Klängen, rund um den Ton G, aber welche herrlichen Klangfarbenmischungen sind das im Orchester! Erst nach einer ganzen Weile nimmt man wahr, wie die Farben, die Dynamik, die Tonhöhen, auch die Pausen sich über ein Minimum hinaus weiten. Dann aber, im Lauf von 72 Minuten, hats eine ungeheure Steigerung.

Besonders reizvoll ist eine Umdrehung der Orchesteraufstellung, in der die „ersten“ Instrumentalisten aller Gruppen ganz außen sitzen. Wird es leise, spielen nur sie und der Klang kommt von den Rändern; wird es lauter, verdichtet er sich zur Mitte hin.

Über dem Kopf des Dirigenten auf einer über Leitern zu erreichenden Plattform sind zwei – ja, eigentlich nicht Tänzer, sondern eben Anbeter. Sie führen meist synchron fürbittlich-invokativ-meditative Gesten aus. Das ist einerseits lächerlich. Andererseits hat diese konsequente Reduktion auf kleine Gesten etwas ansprechend, ja becircend Konzentriertes. Winnie Huang ist eine Frau und trägt weiß, Diego Vásquez ist ein Mann und trägt schwarz. Aufreizend binär, das, aber so what.

Widerspricht es aber nicht dem Sinn von Andachtsgesten, sie immer nur einen Augenblick zu halten, wie musikalische Motive eben?

Besonders schön sind die teils zufälligen Interaktionen, die sich mit der Gestik des Dirigenten unter den Anbetern ergeben. Peter Eötvös ist als langjähriger, teils engster Mitarbeiter Stockhausens der berufene Vorbeter schlechthin. Als Interpret ist er ein Sklave. 60 verschiedene Lautstärkegrade sind vorgeschrieben und Metronomzahlen von 47,5 bis 101. Man muss es einfach so realisieren, wie es notiert ist, sagt Eötvös, so wie ein Bild, das man an die Wand hängt.

Das Bild hängt offenhörlich perfekt gerade. Dank der sommerlangen Einstudierung mit den jungen Musikern der Lucerne Festival Academy , einem – so die Selbstbeschreibung – weltweit einzigartigen Ausbildungsinstitut für die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts.

Inori wirkt so packend wie fremd in seiner eigenartigen Mischung aus Sogwirkung, stockhausierender Spiritualitäts-Hybris und zeitgebundenem Trara. Der gemeinsame HU-Ruf der Tänzer ist zweifellos der humoristische Höhepunkt des Abends. Am Ende steht der gemeinsame Abgang der weißen Frau und des schwarzen Mannes in die Höhe, ins Licht. Das ist ein Scheinwerfer, der durch die Tür über Block K hereinstrahlt. K wie Karlheinz.

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