Musikfest 2018: Ensemble intercontemporain fließt

Wohin gehört die (ja nicht mehr so) neue Musik der Nachkriegs-Avantgarde: in den stinknormalen sinfonischen Konzertbetrieb oder unter die Fittiche von Spezialensembles? Am Wochenende spielten die Berliner Philharmoniker Pierre Boulez. Nun kommt am Montag das Boulez-Spezialensemble schlechthin zum Musikfest nach Berlin, das 1976 von Boulez selbst gegründete Pariser Ensemble intercontemporain, selbstredend in den Pierre-Boulez-Saal. Es  wird geleitet von Boulez‘ Nach-Nach-Nach-Nach-Nachfolger Matthias Pintscher. Den beäugt man mit besonderem Interesse nach seinem mysteriös abrupten Abgang in Luzern, über den man nichts Genaues nicht weiß, weshalb hier auch nichts Ungenaues gesagt werden soll, sondern rien de rien.

Pintscher wirkt entspannt und seelisch intakt. Im Unterschied zum Komponisten George Benjamin, der die Berliner Philharmoniker recht steif dirigierte, macht der Komponist Pintscher auch den Eindruck eines genuinen Dirigenten. Seine fließenden, tänzerischen Bewegungen lassen glauben, die Musik in Pierre Boulez‘ Le Marteau sans maître, diesem Meilenstein der n/Neuen Musik, bestehe aus den intuitivsten Abläufen der Welt. Sieht und hört man freilich den Schlagzeugern an Xylorimba und flachen Rahmentrommeln von hinten direkt auf die Finger, staunt man umso bauklötziger über diese fast abstruse Ausdifferenziertheit der Schläge. Das so quasi-natürlich fließen zu lassen, ist schon hohe Kunst.

Schön, wie Pintscher im ersten Gesangsstück l’artisanat furieux zurücktritt, um die Flötistin Sophie Cherrier und die Mezzosopranistin Salomé Haller mal undirigiert machen zu lassen. Die können das nämlich. Haller ist eine Sängerin der leisen Töne und genauen Nuancen, nur bei vollstem Einsatz wird die Stimme gelegentlich grenzwertig.

Der Ausdruck von innehaltendem Respekt, mit dem Pintscher am Ende des Konzerts das obligatorische Blümchen des Hauses an die Aufführenden auf Boulez‘ Partitur legt, ganz undemonstrativ, nimmt für ihn ein.

Zwei Frauen im Publikum fragten sich indes vor Konzertbeginn, was gleich gespielt würde. Meistens, sagte die eine, machen sie hier erst was Klassisches, dann was Modernes.

Lassen wir uns überraschen, antwortete die andere, der Saal ist ja einfach so schön.

In dieser Lesart wäre Boulez‘ Klassiker Le Marteau sans maître das „was Moderne“ und die zuvor gespielten Alban Berg und Gérard Grisey das „was Klassische“.

Bergs 4 Stücke für Klarinette und Klavier op. 5 von 1913, die nur ein paar Minuten dauern, gehen gewiss als klassisch durch. Martin Adámeks wunderbar intonierte Klarinette klingt im ganz kurzen zweiten Satz, als hätte Webern eine Stippvisite in New Orleans gemacht. Das Klavier (Dimitri Vassilakis) ballt sich am Ende katastrophig zusammen und hinterlässt ein gewaltiges Resonieren, wie so ein sirrend-schwirrender Kreisel, immens unbehaglich.

Der Konzertgängerseele ist aber Griseys 40minütiges Vortex temporum für Klavier und 5 Instrumente (1994-96) am klassischsten. Zwischen Schrecken und Verheißung liegt, was man fühlt, wenn man in akribischer Vorbereitung aufs Konzert von Griseys Strukturprinzipien wie Fibonacci-Folgen oder mikrozeitlicher Sägezahnschwingung liest. Oder gar: Grisey enthüllt unserem Ohr die akustischen Eigenschaften der Klänge wie ein Mikroskop unserem Auge das quirlige Planktonleben in einem Teich. Heiliger Bimbam! Diese Musik, die nicht aus Tönen, sondern aus Klängen besteht, hüllt den Hörer tatsächlich derart ein, dass man sich in den Klang hineinlegen kann. Ein außerordentlicher Genuss, der fast etwas Reinigendes, Läuterndes hat. Das ist hypnotisch, keine Frage, aber akustisch so hochdifferenziert, dass kein Gedanke an euthanasierende Einlullerei aufkommt.

Wohin gehört diese klassisch moderne Musik also, Konzertbetrieb oder Spezialensemble? Sowohl als auch, am besten.

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