Musikfest 2018: Deutsche Oper zimmermannt

Zur Kugelgestalt wird hier die Zeit. Eins der apartesten Zusammentreffen beim Musikfest bietet das Orchester der Deutschen Oper unter Donald Runnicles in der Philharmonie: Richard Wagner meets Bernd Alois Zimmermann. Letzterer einer von mehreren Schwerpunkten im diesjährigen Programm. Während die wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Sinfonie in einem Satz, die die Rotterdamer am Sonntag spielten, ihren panischen Ausdruck geradezu herausschrie, stehen an diesem Mittwoch zwei der stilistisch gefinkelteren letzten Werke auf dem Programm: das kurz vor Zimmermanns Selbsttötung 1970 entstandene Stille und Umkehr und davor Photoptosis von 1968. Ein schwer erschütterndes Doppel ist das.

Seinen Leitgedanken des pluralistischen Klangs fasste Zimmermann zur Entstehungszeit von Photoptosis in einem knackigen Satz zusammen (um mal noch etwas anderes als den immer gleichen Zimmermann-Satz von der Kugelgestalt der Zeit zu zitieren):

Das bedeutet, rein kompositionstechnisch gesehen, dass aus einer für ein ganzes Werk oder für eine ganze Werkgruppe verbindlichen Tonhöhenkonstellation (meistens einer Allintervallreihe) ein Proportionsgefüge von verschiedenen Zeitschichten abgeleitet wird, die auf der einen Seite in ihrer effektiven Zeitdauer auf das strengste mit der erwähnten Tonhöhenkonstellation verbunden sind, auf der anderen Seite aber durch die Möglichkeit spontaner Einbeziehung von vergangener oder zukünftiger Musik, von Zitaten und Zitatcollagen, sowie Collagen überhaupt, eine vor allem erlebniszeitliche Verschiebung erhalten – so könnte man sie jedenfalls nennen -, insgesamt ein Vertauschen und gegenseitiges Durchdringen vieler Zeitschichten, worin ich eine der Eigentümlichkeiten meiner Arbeitsweise sehen möchte.

BÄM!

Aber es hört sich anders, als sich das liest. Im berauschenden Klangfluss des groß besetzten Photoptosis begegnet einem irgendwann eine endzeitliche Gewalt, der die eingesetzte Orgel durchaus eine B-Film-Note verleiht. Bizarrer Effekt, wie dann plötzlich Fetzen aus Beethovens Neunter hervorspringen. Donald Runnicles lässt dieses und andere Zitate (Bach, Wagner, Tschaikowsky, Skrjabin) mit seinem hervorragend präparierten Orchester ganz organisch wirken, ohne zeigefingriges Vorführen. Am Ende aber zuckt er vor der erneut aufstrahlenden spektakulären Wucht dieser Musik mit dem ganzen Körper zurück, verwundert und beeindruckt davon, was für ein aufregendes Ding er da gerade dirigiert hat.

Man staunt darüber, dass Photoptosis als Auftragsarbeit zum 100jährigen Bestehen der Stadtsparkasse Gelsenkirche entstand.

Stille und Umkehr ist das dazugehörige Kontrastprogramm, nicht nur in der verkleinerten Besetzung. Während Photoptosis sich in die Gesamtheit der Töne, mikrozwischiger inklusive, erweitert, fokussiert Stille und Umkehr sehr leise einen einzigen Ton, das durchgehende D. Die mit der Hand gespielte kleine Trommel ergänzt einen reduzierten Blues-Rhythmus, eine Singende Säge wird geklöppelt und gestreichelt. Wo kommt denn dieser Ton her?, fragt sehr unkompliziert eine Hörerin mitten im Stück in den Saal hinein.

Es wäre wohl noch stärkere Zurücknahme, Verinnerlichung denkbar, auch Skelettierung der „Jazz“-Elemente. Aber so oder so ist es imposant, dass und wie das Orchester diese berührende, aufwühlende Musik spielt. Noch intensiver wärs, wenn die beiden Stücke ohne Applaus- und Umbaupause direkt nacheinander gespielt würden.

Mit diesem schwelenden D im Ohr schwelt man so durch die Pause. Und der Ton schwelt auch durch das folgende, doch arg durchwachsene Wagner-Exzerpt.

An sich ja schön, den 3. Aufzug von Richard Wagners Siegfried separat konzertant zu hören. Sonst ist man am 3. Tag, letzter Aufzug ja immer schon ein bissl groggy.

Das wäre allerdings hier kein Problem, denn Runnicles und sein Orchester gehen das Stück dynamisch so an, dass es Tote aufwecken würde. Dass Orchester kann ja seinen Wagner, und es ist auch motiviert und geordnet. Aber es bleibt fast durchgehend sehr laut. Es ist ja in vieler Hinsicht erfreulich, wenn ein gutes Oopernorchester mal aus dem Graben steigt, man genießt seine Spielqualität, aber in punkto Dezibel müsste doch stärker umgesteuert werden. Denn es ist nicht nur schade um manche Nuance, sondern oft auch für die vier Sänger ein Problem.

Herausragend ist, erwartungsgemäß, Michael Volle als Wanderer/Wotan. Seine enorme Gestaltungskraft entfaltet sich teils unter erschwerten Umständen, wenn er sich gegen das Orchester behaupten muss. Doch wie er plötzlich Licht in manche Vokale zu bringen versteht (freudig), lässt einem das Herz höher springen.

Das einem zuvor stehenblieb, als Judit Kutasi zu singen begann und gleich in ihrer ersten Zeile im Wort Lied den Ton verfehlte, wie man es selten hört. Aber Erda wird hier ja auch rabiat aus dem göttlichen Schlummer gescheucht, und der Ausrutscher bleibt einmalig. Sie wird zum mächtigen Gegenpart, und wie sie Wotan schließlich das Wort Meineid um die Ohren schleudert, dürfte dem alten Tunichtgutgott selbige schlackern lassen. Kutasis Stimme ist sehr ansprechend, man möchte sie gern wiederhören, vielleicht sprachlich besser geschult.

Zum ersten Mal bemerkt, dass in diesem dritten Akt zwei Frauen nacheinander aus dem Schlaf gerissen werden: erst die Mutter, dann die Tochter. Diese gewalthafte Frau-aus-dem-Schlaf-Nahme wäre mal einer näheren Untersuchung wert. Allison Oakes ist eine sehr präsente Brünnhilde, voller Kraft, aber mit einem gewissen Mangel an Nuancen und zumal an Verletzbarkeit, die doch auch wichtig wäre. Und die Diktion befriedigt auch hier nicht recht.

Große Verwunderung muss schließlich die Besetzung des Siegfried mit Simon O’Neill hervorrufen. Einen Heldentenor vermisst man hier, meint teils gar Mime zu hören. Der quetschende Klang hat bisweilen Züge von Travestie. Und nicht nur weil Volle gestalterisch so überlegen ist, drückt man im Zusammentreffen von Wanderer und Siegfried doch sehr dem Opa die Daumen, dass er noch einmal das Schwert zerschlagen möge. Aber nix da, Wotan muss ab.

So will und will es an diesem Abend nicht recht wagnern. Dafür hats vorher umso doller gezimmermannt. Und das D schwelt noch immer beim Verlassen der Philharmonie.

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