Kreisquadratisch, überzeugwältigend: RIAS Kammerchor, Capella de la Torre, Justin Doyle mit 2x Monteverdi

Abschluss, vielleicht sogar heimlicher Höhepunkt des Claudio Monteverdi-Bogens beim diesjährigen Musikfest: Nach den drei Opern unter John Eliot Gardiner (mehr dazu und noch mehr) setzt es Geistliches im Doppelpack im Antrittskonzert des neuen Chefdirigenten Justin Doyle beim RIAS Kammerchor. Vor der unsterblichen Marienvesper gibts nämlich endlich mal den selten aufgeführten Hauptteil von Monteverdis gescheitertem Bewerbungsschreiben beim Papst zu hören, die Missa „In illo tempore“.

Die rangierte im Druck von 1610 vor der berühmten Marienvesper, die sich auf dem Titelbild nur im Kleingedruckten findet (ac Vespere pluribus decantandae). Während die Vesper ein Sammelsurium der verschiedensten modernen Stile ist, sollte die Missa Monteverdis Kompetenz im streng polyphonen Altväterstil beweisen. Dass er das auf raffiniert moderne Weise tat, hebt Silke Leopold in ihrer wieder sehr lesenswerten Einführung hervor.

Spannend, welche urtümliche Kraft die hyperkunstvolle Vielstimmigkeit des stile antico entfaltet! Dazu trägt der Aufführungsort der Missa bei, die einst nach dem Vorbild des römischen Pantheons gestaltete und in den 1950ern in doch imposanter Nachkriegs-Archaik restaurierte St. Hedwigs-Kathedrale. Und mehr noch, wie Justin Doyle den Raum inszeniert: Oben und unten fließen im Beginn der Messe in eins. Nachdem die Instrumentalisten der Capella de la Torre vom Orgelbalkon aus die mitreißende Eröffnungsfanfare aus Monteverdis Orfeo gespielt haben, ziehen die Chorsänger über die zentrale Treppe aus der Unterkirche herauf: mit dem gregorianischen Introitus Stabant juxta crucem.

Und höre da: Der Hauptteil dauert nur eine halbe Stunde. Aber was für eine. Der polyphone Chorgesang des auch Sakralraum klar gestaffelten RIAS Kammerchors flutet das Kirchenschiff, gerne versinkt und ertrinkt man in dieser gegenreformatorischen Schönheit. Und holt Luft in der zwischen Gloria und Sanctus eingebauten g-Moll-Sinfonie des jüdischen Mantuaner Monteverdi-Kollegen Salamone Rossi, in der der leuchtende Oboenton der Capella-Leiterin Katharina Bäuml entzückt.

Entzückt auch die ältere Dame, die  beim Hinausgehen zu ihrem Mann sagt: „Der ist süß, der Doyle, oder?“ Scheint Konsens unter den Abonnentinnen zu sein, schon beim letzten Doyle-Konzert war das zu hören.

Und dann doch die einzigartige, unsterbliche Vespro della Beata Vergine vulgo Marienvesper! Die hat der Konzertgänger in jüngerer Zeit zweimal gehört: Perfekt dargeboten vom Freiburger BarockConsort und Vox Luminis, und doch blieb im Kammermusiksaal ein Quäntchen Konzertsaal-Sterilität; und im Sommer in der mittelalterlichen Stiftskirche von Innichen/Südtirol, eine überwältigende Erfahrung, auch wenn viele Details im heiligen Hall verschwanden.

Doyle versucht sich nun im Pierre-Boulez-Saal an der Quadratur des Kreises: in einer glasklaren Akustik eine kirchenschiffhafte Raumerfahrung zu schaffen. Indem er die Musik im Raum in Bewegung setzt. Und den Raum in der Musik. Gewagtes Unterfangen, denn der Boulez-Saal ist ja nicht nur mit seiner avancierten Plenarsaal-Atmosphäre das Gegenteil der Hedwigskathedrale, sondern erst recht mit seiner fast zu durchhörigen Akustik.

Aber es gelingt. Indem Doyle sein Personal in ständiger Bewegung hält: Die Capella beginnt im Außenring des Saal-Ovals und begibt sich erst später zum zentral platzierten RIAS-Chor. Immer wieder beziehen die Sängersolisten und Instrumentalisten neue Positionen. Das bringt zwar manchmal etwas Unruhe in den Saal, später wackelt auch mal die Synchronität der Einsätze des weit verteilten Chors ein bissl, und je nach Hörplatz ist die Klangmischung nicht immer ideal; sitzt die Capella etwa hinter dem Chor, ist sie zu leise.

Aber das wird bei weitem überwogen durch die entstehenden Raumeffekte, durch die Verflüssigung des Klangs: etwa wenn man in der Sonata sopra Sancta Maria  und Ave maris stella von Stimmen umgeben ist, die auf einer Seite einsetzen und von Solist zu Solist und von Chorgruppe zu Chorgruppe durch den Raum wuchern (um ein boulezianisches Wort zu benutzen). Live-Elektronik unplugged. Wer hats erfunden? Die Italiener.

Die Präzision des Chors tut ein Übriges, dazu die ansteckende Spielfreude zumal der Capella unter Katharina Bäuml. Unter den Solisten ragt Dorothee Mields mit ihrem unverwechselbaren Sopran heraus, ebenso der agile Tenor mit dem schönen Namen Thomas Hobbs.

Auffällig auch, wie Doyle die Musik bei aller Spontaneität unter Kontrolle behält und nie in höchste Ekstase entgleiten lässt. Das mag bedauern, wer pure Überwältigung sucht. Der RIAS Kammerchor unter Doyle überzeugt — aber wie! Auf einem Level, das dann doch wieder überwältigend ist. Quadratur des Kreises.

Nur die sinnwidrige Pause störte. Aber die ist bald vergessen, allerspätestens mit der herrlichen Zugabe des Monteverdi-Schülers Francesco Cavalli, Salve Regina.

Nächstes Konzert des RIAS Kammerchors in Berlin am 20. Oktober: mit der atemberaubenden Kombination Josquin Desprez / Carl Theodor Dreyer.

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5 Gedanken zu „Kreisquadratisch, überzeugwältigend: RIAS Kammerchor, Capella de la Torre, Justin Doyle mit 2x Monteverdi

  1. Ich fand die Missa in der der St. Hedwigs-Kathedrale bei weitem nicht so begeisternd wie die vorausgehende Vesper im Pierre-Boulez-Saal, weil die hallige Akustik der Kirche das Orchester doch sehr „verschmierte“: die verschiedenen Instrumente waren kaum zu unterscheiden. Für den Chor empfand ich das nicht so stark, trotzdem war mir die Klarheit im Boulez-Saal lieber. Insofern bin ich sehr froh, dass ich Samstag dort war und nicht am heutigen Sonntag, wo die Missa im Pierre-Boulez-Saal, die Vesper in der St. Hedwigs-Kathedrale gegeben werden soll. Die Vesper im Boulez-Saal fand ich grandios, sie lebte auch von den verschiedenen Positionen, die die Solisten und Chorgruppen nach und nach einnahmen (auch wenn die ständige Bewegung manchen Konzertbesucher gestört haben mag).

    • Am 2. Tag war nur die Reihenfolge getauscht, nicht die Orte. Vielleicht war das ursprünglich anders geplant?
      Ich war froh, erst die Missa (in St Hedwig), dann die Vesper im PBS zu hören. Andersrum wär die Missa in mehrerer Hinsicht an mir vorbeigerauscht.

  2. Hab mir mal nen Bild von dem Süssen angeschaut….na ja die Geschmäcker sind hat verschieden, ganz breit grins…..
    Der Höhepunkt des Musikfestes ist morgen……(hoffentlich)

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