Séance in der Philharmonie! Nicht nur das Konzerthausorchester verirrt sich beim Musikfest an diesen ungewohnten Ort, sondern Gustav Mahlers Geist erscheint höchstpersönlich. Und er findet sich dort schneller zurecht als Dirigent Iván Fischer, den man neulich bei Gardiners Poppea orientierungslos herumsuchen sah, bis das Personal ihn an seinen Platz in Block A führte. Gustav Mahler aber findet ohne Probleme den Steinway-Flügel, der für ihn vor dem wartenden Orchester aufgebaut ist.
Ein hölzerner Kasten steht vor der Flügel-Tastatur, daneben sitzen zwei kauzige ältere Herren. Einer ist Iván Fischer, der andere Hans-W. Schmitz. Was bedeutet W.? Wim? Wendelin? Walahfried? Oder gar Welte-Mignon? Denn Schmitz ist es, der eine Welte-Mignon-Klavierrolle von 1905 für die Aufführung beim Musikfest eingerichtet hat und jetzt per Knopfdruck in Gang setzt, so dass man Gustav Mahler praeter propter selbst spielen hört.
Das Spiel der Pianisten, so Hans-W. Schmitz, wurde nach einem bis heute geheim gebliebenen Verfahren auf Papierrollen aufgezeichnet. Anschließend wurden diese Rollen mit maschineller Hilfe von Hand gestanzt. Für jede Tonlage war eine Spur vorhanden, die Lautstärke wurde auf separaten Spuren kodiert. Von dieser Aufnahmerolle konnten maschinell Kopien für die Kundschaft hergestellt werden.
Was spätestens mit dem Aufkommen der Schallplatte hinfällig wurde. Aber da Gustav Mahler 1905 in Leipzig den Kopfsatz seiner Fünften für Welte-Mignon einspielte, können wir ihn 2017 am Klavier hören, qua Medium der hölzernen Finger des Vorsetzers, die nach Anweisung der Papierrolle die Steinway-Tasten drücken.
Dieser Trauermarsch klingt erwartungsgemäß merkwürdig, von einer eher groben Dynamik, was wohl mit der Aufnahmetechnik zusammenhängt, nicht mit dem Pianisten Mahler. Aber es ist zum Staunen und sehr aufschlussreich. Schon die eröffnende Triole, im Orchestersatz von der Trompete gespielt, klingt bei Mahler so flüchtig, wie seine Partitur es erst im weiteren Verlauf vorschreiben wird. Der Ton ist straff und unsentimental. Und Mahlers gefühlte Gegenwart am leeren Flügel verleiht dem trotz Steinwayklang dumpfen und plakativen Geklapper eine ungeheure Aura. Irgendwo bewegt sich ein leergebliebener Sitz im Saal, setzt sich da gerade der Geist von Alma Schindler hin?
Mahlers flüchtiger Geist lässt sich auch im Internet herbeirufen, man muss nur ein wenig die Tischplatte reiben:
Als der Steinway anschließend langsam im Boden versinkt, ist es, als begäbe sich Gustav Mahler wieder in sein Grab.
Zum Glück bleibt etwas von seinem guten Geist im Saal, denn das Konzerthausorchester unter Iván Fischer schiebt noch eine hervorragende Aufführung der kompletten 5. Sinfonie cis-Moll hinterher.
Die überzeugte schon letzte Woche im Konzerthaus und klingt hier, trotz der viel klareren Akustik, noch weniger „schön“ und elastisch, dafür sperrig und zerrissen, teilweise fast aggressiv. Etwas gedehnt, aber nie zähflüssig, schon gar nicht das prägnante Adagietto. Dabei fällt einem hier der (wegen der hinter dem Orchester sitzenden Kontrabässe) bisweilen helle Klang des KHO stärker auf als im Stammhaus — jedenfalls wenn man vor dem Orchester sitzt. Umwerfend, wenn das Kontrafagott die hinter ihm sitzenden acht Bässe fast wegfegt. Phänomenal wirkt hier der Einfall, den phänomenalen Solo-Hornisten (Bertrand Chatenet) im Scherzo zwischen die ersten Geigen zu platzieren, so dass der Ländler zwischen dem Solisten und den anderen Hörnern phänomenal hin und her fliegt. Gibts diese Sitzordnung öfter oder ist das ein phänomenaler Fischer-Einfall? (Nachtrag: Antwort auf diese Frage unten im Kommentarbereich.)
Eine Fünfte von nachdrücklicher Flüchtigkeit! Der Konzertgänger wundert sich nur, wie das Orchester angesichts von Iván Fischers flüchtiger Sternspritzer-Dirigiertechnik so kohärent klingen kann. Und auf dem Heimweg sieht er den Hauch eines Schattens im Dunkeln, das wird wohl Gustav Mahlers Geist sein, der durch den nächtlichen Tiergarten spaziert.
Mir geht es ähnlich wie Stefan, in den meisten Fällen finde ich eine Umtopfung von Orchestersolisten zumindest problematisch; bei Rattle damals war es auch meiner Ansicht nach definitiv eine Schnapsidee und partiturwidrig (ja, ich weiß, da steht „Corno obligato“. Aber …). Kann mich übrigens nicht erinnern, dass das bei einem Wiener Orchester je gemacht worden wäre (auszuschließen ist es freilich nicht). – Interessant, dass sich die Frage erst kürzlich wieder gestellt hat: Nicolas Altstaedt, in der Doppelrolle als Solist und Dirigent bei Schostakowitschs 1. Cellokonzert (ja, die klein besetzte Haydn Philharmonie hat das außerordentlich hingekriegt!), hat den Hornisten neben sich vors Orchester gesetzt. Das mag das Zusammenspiel erleichtert haben, aber dramaturgisch finde ich falsch, wenn das Publikum auf dem Präsentierteller serviert bekommt, dass ein „Solist“ doch recht viele Pausen hat … Das macht es zum Thema, wann er denn wieder spielt. Und das kann nicht die Absicht gewesen sein.
Nein, die Platzierung des Hornsolisten abseits der Horngruppe kommt öfter vor und meistens finde ich sie total falsch. Gestern hat es gut funktioniert, weil der Solist in den Geigen sass. Rattle hat die Idee damals mit Radek Baborák völlig in den Sand gesetzt, als der den Solisten, wie beim Solokonzert, vorne stehen hatte.
Ah, wäre das auch geklärt. Danke!