Melismatisch: Aribert Reimanns „Medea“ an der Komischen Oper

800px-Medea_1Bald Halbzeit für Medea! Dritte Aufführung von Aribert Reimanns Belcanto-Horror-Klopper an der Komischen Oper, vier Gelegenheiten gibt’s noch bis zu den Sommerferien. Ein Reimann-Sommer, wie er nicht so schnell wiederkommen wird: In zwei Wochen folgt die Gespenstersonate an der Staatsoper, nach den Ferien dann Reimanns neue Oper L’Invisible an der Deutschen Oper.

Opernfreunde, die danach keine Meinung über Reimann haben, werden mit Lebenslang im Opernmuseum bestraft.

Ob die Medea von 2010 sein stärkstes Werk ist? Die Wucht klatscht einen jedenfalls gegen die Decke (Vorsicht mit Berlins schönstem Kronleuchter), aber es ist eine Wucht mit feinen Mitteln. Groß besetzt, die Gongs, Tamtams, Bleche passen nicht in den Orchestergraben, sondern nehmen die vorderen Parkettreihen in den Würgegriff; das Riesenorchester schießt jedoch kaum Tutti-Breitseiten ab, sondern ist ganz aufgefächert. Steven Sloane leitet das Orchester at its best.

Tadellos konzentrierte Inszenierung von Benedict Andrews. Das Einheitsbühnenbild ist schwarz in schwarz. Mittendrin grausig weiß und immer noch weißer werdend Medea. Der bodenbedeckende Mulch dämpft die Schritte bei aller Rumrennerei, für sowas ist der Konzertgänger dankbar.

Sängerisch Belcanto mit Dissonanzen. Geschmeidig schrill und atemberaubend kunstvoll, das. Ein wenig nerven die permanenten Melismen den Konzertgänger, es klingt auf Dauer doch vorherhörbar. Aber wie Nicole Chevalier die seelen- und kehlenschneidende Titelpartie mit Leben und Schrecken füllt, die Stimme an ihre Grenze und darüber hinaus führt: phänomenal, Medea! Die Kreusa von Anna Bernacka bringt mit ihren Koloraturen Strawinsky-Rossignol-Flair nach Kolchis. Nadine Weissmann ist eine sehr markante Amme. Die Männer stehen, wie es sich in der Oper gehört, mal wieder arg doof da, die Sänger machen das sehr überzeugend: Günter Papendell als Jason, Ivan Turšić als Kreon, Eric Jurenas als unheilbringender Herold (im glitzernden Tuntenfummel, ist ja ein Countertenor, gääähn).

Woran liegt es, dass sich dennoch ein gewisser Leerlauf einstellen kann? Bei so einem starken Ensemble und Musik von solcher Wucht? Eben aufgrund der Wucht. Ob eine solche Dauerhysterie wirklich der kompositorischen Weisheit letzter Schluss ist für eine Medea im 21. Jahrhundert, könnte man fragen. Das Erregungsniveau ist von Anfang an so hoch, dass es Steigerungen schwierig macht. Chevalier kompensiert das durch zunehmendes Hin- und Herrennen, wie ein Tier im Käfig. Später kräftiges Haareschütteln beim Kindermord (an zwei Puppen). Naja.

800px-Medea_-_Casa_dei_DioscuriAm intensivsten wirkt da der Schrei einer Dame im zweiten Rang: „O nein!“ Da kommt also etwas von der Medea-Ungeheuerlichkeit an. Ansonsten eine entspannte Stimmung im Publikum: gut, bringt Medea also mal wieder ihre Kinder um. Die Pause wirkt auch deekstasierend. Im verdienten Schlussapplaus steigen die Akteure lächelnd über die eingescharrten Kinderleichen hinweg.

Ein paar Fragezeichen auch an Reimanns Text „nach dem gleichnamigen Drama von Franz Grillparzer“. Grillparzer in Ehren, aber die sprachlichen Gestelztheiten (dir ist es Unterpfand oder erarmt bin ich an Macht) nehmen dem Medea-Stoff einiges an Kraft. Inversionen, Partizipien. Zwei Alternativen kamen dem Konzertgänger in den Sinn: Xenakis‘ mathematisch-archaische Oresteia, deren Altgriechisch einem den fremden Mythos in die Fresse knalllt. Und Raoul Schrotts rabiate, expressiv-umgangssprachliche Ilias-Übersetzung.

Aber dann wäre es wohl kein Reimann. Also hingehen, selber hören und urteilen. Die Gelegenheit ist günstig. Vier weitere Aufführungen.

Vorher unbedingt zur Einführung gehen oder mit dem Medea-Mythos bekanntmachen; wenn man nicht weiß, wer Pelias ist und was das Goldene Vlies, ist man aufgeschmissen.

Goldener Opernliebe-Lorbeer an die Hochschwangere, die sich Medea reinzieht. Und natürlich an besagte Dame, die schrie: „Oh nein!“ That’s the spirit.

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4 Gedanken zu „Melismatisch: Aribert Reimanns „Medea“ an der Komischen Oper

  1. „Woran liegt es, dass sich dennoch ein gewisser Leerlauf einstellen kann?“ Stimmt schon, aber andererseits gibt es ja auch die ruhigen Stellen – Stichwort Tutti-Breitseiten -, die nicht so hochtourig heißlaufen. Das fand ich auch schön, und dazu passt dann vielleicht der kultivierte Grillparzer-Sound ganz gut. Ich sehe mir Medea noch mal an. Haben Sie Dusapins Medea Unter den Linden gehört? Ist zwar schon lange her, aber da fand ich auch sehr angenehm, dass Dusapin keine zweite Elektra schreiben wollte.

  2. Das Beste an „Medea“: Ihr Beitrag dazu! Hätte ich allein Ihren Beitrag gelesen, es wäre ein toller Opernabend geworden … Doch ich war (bereits vor Ihrem Beitrag) in der Aufführung und habe alles mit eigenen Ohren gehört (und auf den eigenen „vier Buchstaben“ erlitten) …

    Zwei Dinge waren es, die meine Geduld und mein Wohlwollen arg auf die Probe stellten – so schreiben Sie es: „Ob eine solche Dauerhysterie wirklich der kompositorischen Weisheit letzter Schluss ist für eine Medea im 21. Jahrhundert, könnte man fragen. Das Erregungsniveau ist von Anfang an so hoch, dass es Steigerungen schwierig macht. Chevalier kompensiert das durch zunehmendes Hin- und Herrennen, wie ein Tier im Käfig. Später kräftiges Haareschütteln beim Kindermord […]“ Ob hier in Sachen Hysterie tatsächlich kompensiert oder doch eher konzitiert wurde, sei dahingestellt. Das Andere: „Ein wenig nerven die permanenten Melismen den Konzertgänger, es klingt auf Dauer doch vorherhörbar.“ „Vorherhörbar“ ist ein schöner Euphemismus für die immergleiche bzw. gleichartige und darum nicht nur (auf Dauer) langweilige, sondern eben auch enervierende melismatische Figuration.

    Was mich an dem Abend aber wirklich aus dem Sessel trieb, war … der Sessel selbst! Es ist ein Graus, in Opern- u. Theaterhäusern immer so furchtbar schlecht platziert zu werden: eingeengt zu und beengt von allen Seiten und eine Tortur für Knie und Rücken und Steißbein. Das ist freilich kein Makel der „Medea“, hat sich allerdings fatal auf die Aufnahme von Werk und Inszenierung ausgewirkt. Leider ist in Sachen Bestuhlung absehbar keine Linderung zu erwarten – und so blieb an diesem Abend als einziger Trost die wirklich hervorragenden Leistungen der Sänger und des Orchesters. Und ja: das Bühnenbild!

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