Gute und schlechte Nachricht aus Leipzig: Die gute ist, dass man ab dem 11. November auch kurz nach Mitternacht per Zug wie im Flug heim nach Berlin kommen wird. Bei der Tristan-Premiere im Oktober und auch an diesem Wochenende war das noch anders. Schlechte Nachricht, dass es diese Jenůfa von Leoš Janáček nicht nochmal gibt – es ist ein einmaliges Gastspiel des Nationaltheaters Brünn zum Abschluss des Tschechischen Kulturjahres in Leipzig.
Ist ja auch kein geringer Aufwand, mit Sack und Pack und Kulisse und Malaise 465 Kilometer weit über die D1 zu tuckern. Zwei riesige tschechische LKWs stehen neben der Oper Leipzig am Georgiring. Drinnen aber grußworten kurz und leger der sehr präsentable Leipziger OB Burkhard Jung, offizieller und länger die stellvertretende tschechische Kulturministerin Kateřina Kalistová. Dass der deutsch-tschechische Kulturaustausch in den letzten 30 Jahren wohl wirklich vernachlässigt wurde, muss ja nicht so bleiben. Seit der Leipziger Buchmesse lesen wir alle Jaroslav Rudiš, der immerhin mit einem tollen Titel wie Der Himmel unter Berlin bekannt wurde und zuletzt Winterbergs letzte Reise veröffentlichte. Die Deutsche Bahn sollte sowieso dringend von der Gastronomie der České dráhy lernen. Und, das Wichtigste, das deutsche Opernohr muss unbedingt mehr, viel mehr Janáček hören.
Man kann es übrigens nicht oft genug wiederholen: JanÁček, nicht JÁnaček, wie hierzulande immer wieder zu hören. So! Und JenŮfa, nicht JÉnůfa, das ist doch keine mährische Jennifer. So!
Es tut gut, Janáčeks erste berühmte Oper (uraufgeführt 1904, als der Komponist schon 50 war) von idiomatischem Fachpersonal zu hören! Der kräftige Klang des Orchesters des Nationaltheaters Brünn unter dem Dirigenten Marko Ivanović mag nicht der subtilste und -limste sein, dennoch freut man sich, dass Janáček hier mal nicht so ausbuchstabiert und abgezählt klingt, wie es bei deutschen Orchestern manchmal der Fall ist. Man meint einfach zu hören, dass alle Musiker verstehen, was da auf der Bühne gesungen wird. Tänzerisch gehts los, auf natürliche Weise schwingend; dabei ist es ja das Mühlrad einer fürchterlichen Handlung, in der der Mord an einem ins Eisloch gesteckten Baby schließlich zum Katalysator der verschütteten reinen Gefühle wird, der entsetzliche Schmutz der Seele am Ende ihren Glanz enthüllt. Herrlich und todtraurig der lange Gesang der Solovioline, als die stiefmütterliche Küsterin mit dem Baby in die frostige Nacht geht, um das Glück ihrer, grässliches Wort, „unehelich“ Mutter gewordenen Ziehtochter zu retten (und wohl auch die eigene Ehre vor dem Gerede der Leute). Am Ende des zweiten Aktes brausrüttelt das Blech wie Todvater im Himmel persönlich.
In diesem zweiten Akt klingt das Orchester größer, breiter, schwelgerischer als zuvor, man denkt durchaus an Puccini. Die bahnbrechende Jenůfa ist aber vielleicht die erste Oper der Geschichte in Prosa und gewiss die erste, in der Janáček – ein Wunder der Musikgeschichte – seine aus der gesprochenen Sprache extrahierten Melodien einsetzt. Und doch ist sie noch nicht so radikal wie seine folgenden Opern, traditioneller was etwa die Auftritte angeht usw. Und diese viele Anrufung des Heilands in der Schlussszene, die gibts später dann auch nicht mehr, an Katja Kabanovas Wolga und im Totenhaus ist kein lieber Gott mehr daheim. Und doch ist das alles hier echter Janáček, mit dieser einzigartigen Mischung aus Verknappung und Unendlichkeit.
Die Solovioline aber hören wir wieder, als die schuldig gewordene Küsterin im dritten Akt sich die Gräuel eines langen Lebens ausmalt. So wie im Orchester unter Ivanović die doch auch nötigen Momente von Härte und Schärfe etwas kurz kommen, fehlt der Küsterin von Szilvia Rálik vielleicht ein bisschen Kälte und Verzweiflung. Dafür erleben wir sie aber ganz menschlich, und die gemeinsamen Szenen mit ihrer Ziehtochter Jenůfa vor allem im zweiten Akt klingen herrlich. Pavla Vykopalová in der Titelrolle hat eine anmutige, lyrische Stimme. Und auch wenn das Dorfmädchen Jenůfa natürlich etwas anderes ist als die Kabanova oder die Makropoulos, ist es schön, hier mal einen leichteren Janáček-Sopran zu hören als die in Berlin erlebten Westbroek (Katia K.) oder Herlitzius (Emily M.).
Wie meisterlich Janáček seine Musik aus den Stimmen der Straße heraus und direkt in die Stimmen seiner Sänger hineingeschrieben hat, spürt man bei diesen muttersprachlichen Interpreten sehr imponiert. Den verliebten Laca Klemeň etwa, der der Jenůfa zuerst das Gesicht zerschneidet, doch am Ende, als sie am Abgrund steht, zu ihr hält: den singt Jaroslav Březina ganz berührend, ein stiernackiger Gewalttäter mit durchleuchtender Seele.
Viele herumkullernde rote Äpfel gibts auf der Bühne (jaja, Jenůfas apfelrote Wangen und das sündige Pflücken), Wald und einiges landwirtschaftliche Gerät, Saftpressen und dergleichen, geflochtene Körbe, dazu uriges Kostümat. Im Lauf der Akte entrumpelt sich die Bühne, bis am Ende Laca und Jenůfa stiefmutterseelenallein im Regen stehen, aber Hand fest in Hand. Verdopplungen von Räumen und Figuren ziehen sich durch den Abend und stehen im zweiten Akt der Emotionalität im Wege, weil sie die Figuren zu sehr trennen. Ansonsten richtet die Inszenierung von Regisseur Martin Glaser keinen größeren Schaden an, außer vielleicht einer gewissen Harmlosigkeit.
Janáček aber atmet. Ein komischer Zausel muss er ja gewesen sein, später stalkte er seine Muse Stösslova. Aber wie seine Kunst immer auf der Seite ihrer Figuren steht, der Frauen zumal: Das ist doch mit das Berührendste, was die Oper im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Insofern, nichts Besseres zum Abschluss des Tschechischen Kulturjahres denkbar als eben das. In Brünn gibts übrigens ein Janáček-Festival, nächstes Mal im Herbst 2020.
Super. Jenufa mit Muttersprachlern. Ich beneide Sie. Das hätte ich interessant gefunden. Obwohl, in Berlin wäre der Saal wohl ein Drittel voll gewesen. Puccini – richtige Bemerkung, fand ich auch. Ich hatte in meiner Kabanowa-Besprechung noch einen Absatz stehen: wäre doch gut, eine tschechische Katja zu hören bzw. tschechische Sänger überhaupt, habs dann gestrichen.
Oh Mann, jetzt schreibt sich Jenufa auch noch mit Loch auf dem U.
Überfüllt wars auch in Leipzig nicht, aber man muss ja auch nicht immer drauf rumreiten. Der Standard-Einstieg „halbgefüllter Saal“ geht mir in klassischen Konzertkritiken oft richtig auf den Senkel. Manchmal sind das ja die besten Konzerte, und was beim Leser hängenbleibt: halbleer.
Halbvoll!
Muttersprachler scheint mir gerade bei Janacek einen besonderen Wert zu haben.
Die Oper Leipzig ist wunderbar. Man sitzt auch bequemer als in jedem Berliner Haus.
Ja, die sind sehr rührig in Brünn. Man kommt fast in Versuchung, einmal hinzufahren. Ein Problem bei den Janacek-Opern – zumindest für mich – ist, dass man das Tschechische überhaupt nicht „mithören“ kann, weil man schlichtweg nichts versteht. Nicht, dass man zum Deutsch-Singen fremdsprachiger Opern zurückgehen sollte. Doch dieser Usus half zumindest, genau zu verstehen, von was die Leute gerade reden und zwar nicht ungefähr Satz für Satz, wie heute mit den Übertitelanlagen, sondern Silbe für Silbe. Manchmal, aber wirklich nur manchmal, bedaure ich, dass die Komische Oper vom Deutsch-Singen abgerückt ist. Hinzu kommt, dass selbst für Leute wie mich, die null Tschechisch können, manche Sänger hörbar mit deutschem Akzent singen (Florian Hoffman war so ein Fall bei Katja Kabanowa).