Nicht lang ists her (für manch einen noch gar nicht), da galt Vivaldi als die Steigerung von Telemann: öd, öder, Antonio. Wie konnte das passieren, da noch dem frühen Musikhistoriker John Hawkins Wildheit und Ungezwungenheit als Kennzeichen Vivaldis galten? In der lesenswerten Novelle Barockkonzert des kubanischen Schriftstellers Alejo Carpentier erlebt ein mexikanischer Reisender im venezianischen Ospedale della Pietà eine elektrisierende nächtliche Jam Session Vivaldis mit Scarlatti, Händel und einem dunkelhäutigen Diener. Die „moldauisch-österreichisch-schweizerische“ Musikreisende Patricia Kopatchinskaja ist nun on the road mit Giovanni Antoninis Giardino Armonico, der so kompetent wie open minded musikgärtnert: zwecks Vivaldi-Re-Elektrifizierung. Auch wenn Puristen und Muffel argwöhnen, hier würde Vivaldi auf den elektrischen Stuhl gesetzt.
Denn die Musiker haben auf ihrer Tournee, die sie an diesem Abend ins Berliner Konzerthaus führt, ein halbes Dirty Dozen von italienischer Gegenwartsmusik dabei, das die Session unter Wechselstrom setzen soll. Da Nummer 6 (Marco Stroppa) kurzfristig gestrichen wurde, macht halt Kopatchinskajas geigerische Präsenz das dreckige Halbdutzend voll. Die zum Flug ansetzenden Vögel, die sich Luca Francesconi in seinem Spiccato il Volo vorstellt, müssen am Speed gepickt haben, so wie hier der Bogen von den Saiten flippt – und doch meint man, das kurze Stück sei direkt aus einem Vivaldikonzert heraus und durch die Jahrhunderte zu uns geflattert. Dass es noch im Ausklingen von Vivaldis g-Moll-Concerto RV 157 beginnt und direttemang ins Violinkonzert C-Dur RV 191 hineinführt, ist sinnig und gewinnend.
Während Francesconis Pezzo von einer bestimmten technischen Idee ausgeht, entsteht in Simone Movios Incanto XIX eine zauberische Atmosphäre, in der man sich wie ein mexikanischer Romangast zu fortgeschrittener Stunde fühlt, da die Tische zu schweben und die Wände zu fließen beginnen. Nicht alle Neukompositionen überzeugen gleichermaßen. Aureliano Cattaneos zweiteiliges Estroso, das als pure Motorik beginnt und dann über eine Geigenkadenz in flächige Ruhe mündet, würde man gern nochmal erleben, um klarer zu hören. Giovanni Sollimas welliger Moghul hingegen klingt mit seinen seichten Exotismen flauschig wie Beruhigungsmusik beim Zahnarzt. Danach wirkt Vivaldi per se sauwild.
Die aufregendste Neuware aber ist das einzige Stück, das nicht eigens für die Tournee von Kopatchinskaja in Auftrag gegeben wurde. Was kein Übel ist, denn welcher Lebende kann sich schon mit Giacinto Scelsi messen? Dessen L’Âme Ouverte für Solovioline ist ein tranceartiger Oberton-Singsang, der aus dem „gleichzeitigen Erklingen von Tönen mit dem geringsten Abstand“ (Horst A. Scholz) entsteht. Als hätte die einsame Geige vor langer Zeit die Atmosphères eingesogen und würde sie jetzt vor sich hin atmen, ganz allein. Dass diese oft an der Kante zur Stille balancierende Musik vor Publikum überhaupt und erst recht vor dem unruhigen Konzerthaus-Publikum fast unaufführbar ist: Das ist nun mal Schicksal alles Zauberweltlichen hienieden.
Interessant, während Kopatchinskajas erster Solonummer, dem vivaldi-brückenden Spiccato von Francesconi, dem Giardino-Leiter Giovanni Antonini beim Zuhören zuzusehen: wie er da die Hände in die Hosentaschen steckt, wieder herausnimmt, ein Taschentuch von links nach rechts umräumt, die Arme verschränkt, die Brille geraderückt, die Hand vor den Mund nimmt und tief durchatmet. Alles sehr konzentriert und doch, als fragte er sich, worauf er sich hier eigentlich eingelassen hat. Aber das ist ja in allen Lebenslagen so: Die besten Abende in unserer kurzen Zeit hienieden sind immer solche, an denen wir uns fragen, worauf wir uns da gerade eingelassen haben.
Und nicht nur bei den gemeinsam zu spielenden Werken von Movio, Cattaneo und Sollima, sondern erst recht bei Antonio Vivaldi sind die Geigerin und der Giardino Armonico ein Herz und eine Seele: wild und ungezwungen. Wenn im bekannten e-Moll-Konzert für 4 Violinen RV 550 die Stimmen der Solisten hintereinander raketig aufsteigen, werden sie von vorne nach hinten immer geschmeidiger; vorne ist Kopatchinskaja, dazwischen Marco Bianchi und Stefano Barneschi, hinten und am geschmeidigsten von allen Liana Mosca. Im Violinkonzert Es-Dur RV 253 „La Tempesta di Mare“ eilen die Hauptprotagonisten zwischendurch von ihren Plätzen, die Solistin kurbelt die Windmaschine, der Dirigent rührt das Donnerblech.
Der hochkompetente Giardino Armonico spielt stets mit lustvoller, dabei klangschöner Wüstheit und verliert nie die Contenance angesichts der Allüren seines Stargasts. Denn alle diese Allüren wirken durchdacht, so als wollten sie sich in die Spuren des verschollenen Allürikers Vivaldi verbeißen. Keine Wendung, kein Intervall, kein einzelner Ton scheint selbstverständlich, das wirkt ungeheuer belebend. Und wie es auch quietscht und knarzt und schleift im C-Dur-Konzert RV 191, so vexiert sichs immerbald in ein ätherisches Singen. Meint wer, Feen sängen immerzu zauberlos sauber? Feenhaft schief kann das sein.
Fast alle Kadenzen stammen von Kopatchinskaja selbst, man schrieb die ja zu Vivaldis Zeiten kaum je auf, sondern machte sie aus dem Stegreif. Im letzten Satz von Vivaldis Violinkonzert D-Dur RV 208 „Il Grosso Moghul“ fragt man sich freilich, ob die gute Frau es mit dieser abstrus uferlosen Kadenz durch alle Höhen und Tiefen jetzt nicht doch übertreibt – um schließlich zu erfahren, dass ausgerechnet dieser Kadenz eine authentische Aufzeichnung Vivaldis zugrunde liegt.
Freilich frickelt Kopatchinskaja überall Ungehöriges rein, Spieltechniken aus aller Herren und Damen Zeiten, ins Moghul-Konzert auch Indisches. So wie in die Neukompositionen des Abends ungehörig Vivaldi reingefrickelt ist. Wie genau wo und was verfrickelt ist, würde man sich gern mal en detail aufdröseln. Gelegenheit zu solchem aufdröselnden Entfrickeln wäre vielleicht am kommenden Montag, wenn das gleiche Programm (aber sicher ganz anders) aus der Elbphilharmonie live übertragen wird.
Ein Wermutstropfen: dass Giovanni Antoninis Blockflötenkünste in diesem Konzert kurz kommen. Der Einsatz der Flöte in den neuen Kompositionen von Movio und Cattaneo wirkt eher alibihaft. Abhilfe schafft da die Zugabe, in dem Kopatchinskaja und Antonini ein Duo für zwei Violinen von Béla Bartók kurzerhand in eins für Violine und Blockflöte umfungieren. Funzt.