Weh: Konzerthaus-Saisoneröffnung mit Iván Fischer und Cameron Carpenter

Einiges tut weh bei dieser Saisoneröffnung im Konzerthaus Berlin. Zum Glück überwiegt das wohlige Weh.

Aber vor Mahlers Fünfter mit dem Konzerthausorchester gibt es erstmal Cameron Carpenter zu bestaunen, den Organisten, der Patricia Kopatchinskajas Nachfolge als Artist in Residence antritt. Zwangsvorstellung des Konzertgängers: dass bei Johann Sebastian Bach, als er in einer Leipziger Probe vor Ärger seine Perücke herunterriss und darauf herumtrampelte, eine ähnliche Haarbürste zum Vorschein käme wie auf Carpenters Kopf. Aber selbst wenn es so gewesen wäre, wäre diese Bürste bei Bachs Formbewusstsein nicht so haarscharf asymmetrisch gewesen wie bei Carpenter. Ein Anblick, der einen Konzertgänger-Bekannten mit akkurat spiegelbildlichem Henriquatre-Bart während des ganzen Auftritts leiden lässt.

Aber nichts mehr über Äußerlichkeiten! Soll doch die Sitznachbarin des Konzertgängers über die organistischen Glitzerschuhe in Verzückung geraten. Hochmusikalisch ist dieser übelbebürstete Kopf ja zweifellos. Carpenter musiziert mit vollem Körpereinsatz. Jedoch nicht an der Jehmlich-Orgel des Großen Saals, sondern an seiner eigenen digitalen International Touring Organ. Der Anblick der von retrofuturistischen Tröten-Lautsprechern zugerümpelten königlichen Konzerthaus-Orgel tut etwas weh; ein bisschen wie ein Gast, der in einem Spitzenrestaurant sein mitgebrachtes Picknick verzehrt. Ebenso der Gedanke, dass da keine Luft durchweht, wenn die ITO ihre gesampelten Klänge der besten Orgeln aus aller Welt hervorbringt.

Der Klang aber ist zweifellos spektakulär. Fast so exotische Geräusche sind darunter wie bei der Mighty Wurlitzer im Musikinstrumentenmuseum (übrigens jeden Samstag um 12 zu hören). Doch die ITO kann eben auch seriös und sakral und hat einen viel mächtiger-gewaltigeren Bumms. Bachs Präludium und Fuge D-Dur BWV 532 lässt man sich gern so gefallen. Man erkennt Bach zwar kaum wieder, aber das virtuose Feuerwerk geht schon als zeitgemäß aufgedonnerte Feuerwerkvirtuosität durch; eben mit asymmetrischer Haarbürste statt gepuderter Perücke. Bachs Büste im Parkett rechts schaut einigermaßen gnädig.

Aber bei der Choralbearbeitung Jesu meine Freude BWV 610 rümpft sie doch etwas die Nase, dieses verhaltene Stück befremdet in seiner Nebligkeit. Und Carpenters Orgelversion von Gustav Mahlers berühmtem Adagietto ist, mit Verlaub, grausam. Die langgehaltenen Töne klingen leblos, und derart sterile Tupfer gehören ins Krankenhaus, nicht in den Bass. Mahlers Büste auf der Galerie wendet sich entsetzt ab.

Um aber Carpenters zweifellos überragenden Fähigkeiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen:

Wie weit Carpenters Orgelkünste tragen, verrät das Schaulaufen im Konzerthaus nicht, das wird man erst nach seinen weiteren Konzerten beurteilen können. Das nächste am 29. Oktober, ein reines Bachprogramm an der seriös-perückigen Jehmlich-Kleinorgel „Prinzessin“.

Die geschändete Mahler-Büste indes dreht sich nach der Pause wieder saalwärts, als der 2018 scheidende Chefdirigent Iván Fischer und das Konzerthausorchester die gesamte Sinfonie Nr. 5 cis-Moll aufführen. Fischer und Mahler, das passt einfach. Heute besser denn je, trotz hier und da noch zu hörender Sommermüdigkeit im Zusammenspiel: Denn noch nie meint man das Adagietto so schillernd und lebendig und seelenvoll und wehmütig gehört zu haben wie nach dem Gemurkse mit der International Touring Organ. Man möchte Frau Professor Ronith Mues die Hände küssen, mit denen sie ihrer Harfe die zartesten und somnambulsten Töne entzupft.

Die zielsicher eröffnende Solo-Trompete mit der rechten militärmusikalischen Schlampigkeitsnuance deutet schon auf einen guten Saisonstart hin. Die Streicher pulsieren warm und das Blech glänzt, vor allem im zentralen expansiven Scherzo, dem Scherz der Finsternis, und im Rondo-Finale, das so maßlos glänzt, dass es wehtut.

Schöne Gelegenheit: Beim Musikfest kann man die Fünfte am Dienstag gleich nochmal mit dem Konzerthausorchester hören – dann aber in der Philharmonie, ohne International Touring Organ, dafür mit Gustav Mahler höchstpersönlich und eigenhändig.

Nach dem Konzert wurde der Flötist Ernst-Burghard Hilse nach 40 Dienstjahren in den Ruhestand verabschiedet. Fischer nennt den Musiker, den man an seinen dienstfreien Tagen regelmäßig als Zuschauer im ersten Rang sieht, die Seele des Orchesters und lässt zum Abschied die Bläser den Choral In allen meinen Taten spielen. Nebenbei erfährt man, dass Fischer jede Probe mit einem Choral beginnt. Was für ein schöner Brauch!

Hilse erinnert sich in wenigen Worten an seine Anfänge 1977, als das Schauspielhaus (wie das Konzerthaus damals noch hieß) und die umliegenden Dome Ruinen waren. Dass er den Abschied vom Publikum für einen Appell gegen Populismus und Rassismus, für ein Miteinander der Kulturen nutzt, spricht für sich. Ob er damit diese und jene verhärtete oder verängstigte Seele im Publikum erreicht? Möge es so sein!

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