Kein anderes Berliner Opernhaus macht sich so viel Mühe mit dem Kinderkram wie das Komische – und wirkt dabei so freudevoll. Das gilt nicht nur für die große Bühne, sondern auch für Foyer und Prachttreppe der Komischen Oper: Die Stimmung ist bereits vor der deutschen Erstaufführung von Pierangelo Valtinonis Der Zauberer von Oz ganz eminent. Da wird einem schlagartig klar, dass es bei sogenannten Erwachsenen-Opern viel zu selten vorkommt, dass Premierengäste auf dem roten Teppich Purzelbäume schlagen und elegante Abendkleidträgerinnen sich gackernd auf dem Boden herumwälzen. Die Oper ist ab 6 Jahren empfohlen, es sind aber etliche Jüngere da, die weder Schaden nehmen noch anrichten. Ältere dito.
Der Konzertgänger ist mit seiner Tochter da, die schon 9 ist, sich aber manchmal fühlt wie eine auf den Kopf gestellte 6. Sie ist hellauf begeistert. Die Handlung ist ihr ohnehin geläufig, weil ihre Klasse das Buch einmal in der Schule vorgelesen bekommen hat; Donnerlüttchen, was unsere Grundschullehrerinnen so leisten, ohne dass mans mitkriegt! Der Vater indes hat vor ein paar Jahrzehnten mal den Weltdokument-Filmklassiker mit Judy Garland gesehen und noch halbwegs präsent. Aber es kann, obwohl sich die Handlung an der Komischen Oper gut verfolgen lässt, niemals schaden, sich den Plot vor dem Opernbesuch zu vergegenwärtigen. Schließlich kommen nicht weniger als vier verschiedene Hexen vor.
Ehrliche Ansage der Tochter: Die Musik ist mir in der Oper am unwichtigsten. Das sagt hier aber weniger über mögliche musikalische Leistungsschwächen aus, sondern eher etwas über die Stärken vom Rest. Und indirekt natürlich eben doch einiges über die musikalischen Stärken: Denn Pierangelo Valtinonis abwechslungsreiche, bunte und dennoch dezente Komposition trägt die Handlung gefühl- und schwungvoll voran, ja wirbelt sie jederzeit vorwärts wie der regenbogenfarbene Wirbelsturm das Häuschen der kleinen Dorothy: von den wogenden Weizenfeldern in Kansas (das hier aufgrund seines Fruchtreichtums gar nicht so arm aussieht, wie das Libretto behauptet) ins schillernd geheimnisvolle Land Oz, mit kurzer Spritzflugtour ins Weltall dazwischen.
Valtinoni sucht den Kindern nicht etwelche Wonnen des Tritonus zu vermitteln, wie es Christian Jost in seiner schön atonalen Insekten-Oper Mikrokosmos tat, sondern bigbandös und satt tonal. Es gibt unter der kompetenten Leitung des Dirigenten Ivo Hentschel große Musical-Momente, aber auch ein paar intime Moments musicaux, wie in der Confessio des armen Blechmanns, der sich ein Herz wünscht. Ansonsten führen ständige Tempo- und Stimmungswechsel bei ungefährer Einheitslautstärke die silberbeschuhte Dorothy durchs Zauberland. Als Erwachsener wünscht man sich, bestimmte Klänge sich mal stärker entfalten zu hören, aber hier gilts den Kindern. Und von denen wird keinem langweilig.
Am unwichtigsten an der unwichtigen Musik ist der Tochter diese Singerei, aber ohne Singerei keine Oper, und die Oper findet sie nun mal prima. Der Vater möchte anmerken, dass das auch den prima Sängern zu verdanken ist. Valtinoni hat die Partien allesamt kehlenfreundlich angelegt. Dass die Stimmen deutlich elektronisch verstärkt sind, hilft über mögliche Engstellen hinweg, die sonst zum Forcieren zwingen könnten, und dient insgesamt sehr der Textverständlichkeit. Da merkt man allerdings, dass Hanna Francesconis deutsche Fassung des Librettos von Paolo Madron einem zweifelhaften Reimzwang unterliegt, der manch unnatürliche Wortwahl und noch unnatürlicheren Satzbau hervorbringt. Aber sängerisch wie darstellerisch sind das lauter rundum befriedigende Leistungen: von dem entzückenden Dorothy-Sopran von Alma Sadé über die drei schrägen Gefährten Vogelscheuche (Christoph Späth), Blechmann (Tom Erik Lie) und feiger Löwe (Carsten Sabrowski) bis zur Nord-Süd-Doppelhexe Mirka Wagner und der bösen Hexe des Westens Christiane Oertel, die dann doch die Favoritin der Tochter wird. Der Ernst-Senff-Chor macht seine Sache gut; die Herzen allerdings fliegen dem Kinderchor der Komischen Oper zu.
Ehrliche Ansage des Vaters: Die Inszenierung ist ihm immer am unwichtigsten. Doch an der Arbeit von Regisseur Felix Seiler gibts ohnehin nichts zu meckern. Sie ist so vital wie die Musik, inklusive eines echten lebendigen Knuddelhündchens an Dorothys Seite und einer Somewhere over the Rainbow-Klingel am Tor der konsumgeilen Smaragdstadt; wenn man draufdrückt, lässt der Torwächter (Karsten Küsters) einen Bart zum Guckloch heraushängen wie Rapunzels Damenbart. Die Kostüme von Linda Schnabel sind schneidig und das wechselnde Bühnenbild von Nikolaus Webern höchst fantasiereich; an einer Stelle erinnerts gar an Neo Rauchs blauen Bayreuther Lohengrin.
Wenn der Zauberer von Oz letztlich also poppt, aber doch nicht ganz so wie Valtinonis hinreißende Schneekönigin nach Hans Christian Andersen anno 2010, dann liegt das zum einen an der damals noch inspirierteren Musik: Von der hat man auch nach Jahren noch manches im Ohr. Zum anderen liegt es auch an der doch sehr verschiedenen Höhe der literarischen Vorlagen. Lyman Frank Baums Roman The Wonderful Wizard of Oz (1900) scheint doch ein bissl eine Alice ohne Tiefsinn zu sein. Was den Wizard of Oz bis ins Mythologische vertieft hat, ist wohl eher seine Wirkungsgeschichte: vom fröhlichen Filmklassiker in dem Jahr, da in Europa der Zweite Weltkrieg ausbrach, über das tragische Leben von Judy Garland bis zur bösen Hexe des Westens in David Lynchs Wild at Heart, diesem ungeheurlichen Anti-Oz-Märchen.
Aber Zug ist hier genug drin, um zwei höchst kurzweilige Stunden zu erleben. Denn immerhin sucht hier eine Vogelscheuche ihr Herz, ein Blechmann sein Herz, ein Löwe seinen Mut und ein kleines Mädchen den Weg nach heimwärts.
Zwölf weitere Vorstellungen bis Weihnachten.
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