Man fasst sich (von urkindlicher Sorge erfasst wie diese Dreijährige) unwillkürlich ins Gesicht bei Dmitri Schostakowitschs Die Nase, um nachzufühlen, ob alles noch da sei. Wenn nicht, falls männlichen Geschlechts, in noch urkindlicherer Sorge in den Schritt. Denn P*mmelwitze liegen schon in Nikolaj Gogols zugrunde liegender Erzählung (1833-35) in der Luft.
Etwa dieser Wink mit dem erigierten Zaunpfahl, was womit gemeint sei, wenn sich der Annoncenbearbeiter der Zeitung weigert, die Suchanzeige des seines Gesichtserkers verlustig gegangenen Kollegienassessors Kowaljow zu veröffentlichen:
„In der vergangenen Woche hatten wir zum Beispiel folgenden Fall: Da kommt ein Beamter, so wie Sie jetzt hier, bringt einen Zettel, die Rechnung macht zwei Rubel dreiundsiebzig Kopeken, und die ganze Annonce bestand darin, daß ein schwarzer Pudel entlaufen war. Scheinbar nichts Besonderes? Und was stellt sich nachher heraus? Einen Eklat gab’s: Mit dem Pudel war nämlich der Kassenverwalter gemeint, ich weiß nicht mehr von welchem Amt.“
„Aber ich gebe doch keine Annonce über einen Pudel auf, sondern über meine eigene Nase, das heißt: beinahe über mich selbst.“
(Übersetzung Eberhard Reissner, Reclam)
Das Wort нос (Nase) ist im Russischen maskulin und damit einiges vom Gogol-Wortwitz kaum übersetzbar. Vor allem aber ist der eigentliche Reiz von Gogols Erzählung überhaupt nicht bühnenfähig: Die surreale Vorstellung eines Beamtengesichts mit blöder profilloser geebneter Fläche im Zentrum und einer wichtigtuerisch durch die Stadt scharwenzelnden, herrisch motzenden und inniglich betenden Nase in Uniform – das geht nur in der Sprache, in der Literatur.
Die 1927/28 entstandene Oper des damals erst 21jährigen Schostakowitsch setzt deshalb Groteske an die Stelle von Surrealismus. Und Barrie Koskys Regie, eine internationale Koproduktion u.a. mit Covent Garden, klebt dem Kowaljow zwar irgendwann auch mal einen wippenden Phallus ins Gesicht, nimmt aber dennoch нос weniger als männliches Prachtstück denn als Umdrehung des Wortes сoн (Traum). Kosky inszeniert das Stück als Albtraum-Revue, wohl ganz im Sinn von Schostakowitsch, der sagte: ‚Die Nase‘ ist eine Horrorgeschichte, kein Witz. Mit gutem Grund heißt es im Programmheft vorneweg mit Meyerhold: Das Groteske muss nicht unbedingt komisch sein. Freilich, dürfen tät es wohl schon. Aber das überbordende Bühnenspektakel an der Komischen Oper ist kein Witz und in der Tat nicht gerade komisch, trotz einiger Lacher; was okay ist, aber auch ein bisschen schade.
Koskys Klasse zeigt sich indes schon in seiner verblüffend einfachen, aber schlüssigen Lösung des Problems, wie man denn nun eine fehlende Nase darstellen soll: Er klebt einfach allen Bühnenfiguren dicke Zinken ins Gesicht, nur die Hauptfigur hat keinen mehr, dafür leuchtet ihre mickrige Naturnase blutrot. Alles Geschehen fokussiert sich in einer großen Linse (Bühnenbild Klaus Grünberg), die einerseits das innere Auge des Albträumers sein mag, andererseits der Kamerablick, der als filmisches Moment der rasanten Schnitttechnik von Schostakowitschs wüst-heterogener Musik entspricht. Kaum Requisiten, dafür eminent bewegliches Menschengewimmel rufen irrmachendes Großstadtflair hervor. So rot die Nase, so knallbunt und wunderlandig sind die Kostüme von Buki Shiff; aus diesem Fundus würden andernorts 20 Inszenierungen ausgestattet. Aber aus dem Farbenoverkill entsteht kein naseweises Rauschen, sondern ein großes Pechnaserabenschwarz.
Es wird deutsch gesungen. Zwar hört man die beiden russischen Liedeinlagen ganz gern, aber der satirische Drive läuft via Muttersprache doch direttemanger. Und die flotte Übersetzung des Dramaturgen Ulrich Lenz erzielt Volltreffer selbst da, wo es eigentlich nichts zu treffen gibt (entnasifiziert). Dass einem noch Karo- und Kreuzkönig aus Alice im Wunderland begegnen, ist fast zu viel des gut Grotesken.
Da es nun mal Deutsch ist, wünschte man sich gelegentlich, man verstünde noch mehr vom Text. Aber die Präsenz der Sänger ist hoch, und die überdrehten Timbres sprechen für sich. Dreh- und Angelpunkt, ja unter Albtraumaspekten vielleicht sogar der einzige Mensch überhaupt auf der oft rappelvollen Bühne ist der Bariton Günter Papendell, der sich die verlorene Seele aus dem Leib klamaukt und dabei Angst und Panik aus jeder Pore schwitzt. Er gähnt, rülpst und – rührt: Eine Witzfigur, die unser Mitleid erregt, ist hoher Achtung wert.
Eine Vielzahl von Sängern teilt sich eine Unendlichkeit von Rollen. Jens Larsen überzeugt u.a. durch schönes Suffnasen-Timbre als Barbier Iwan Jakowlewitsch, der die Nase seines Kunden im frischgebackenen Brot entdeckt, Rosie Aldridge als dessen hysterische Gattin mit schrillem Schreckschrauben-Timbre. Angenehm zu singen ist das sicher alles nicht mit den vielen unnatürlich hohen Lagen (etwa der Polizeioberhauptmeister von Alexander Kravets), enge Höhen sind satirisches Programm. Insgesamt eine imposante Ensembleleistung.
Zum Publikumsliebling werden indes die Nase, die auf dünnen Kinderbeinen über die Bühne fegt, und die Tanzcombo (Choreografie Otto Pichler), die Schostakowitschs instrumentale Zwischenspiele versteppt und verstompt. Diverse wilde Galopps und Polkas geben die Temperatur vor, nämlich von siedend an aufwärts. Das ist nicht unanstrengend. Das Orchester der Komischen Oper bringt den scharfen, ätzenden Sound des jungen Schostakowitsch exakt hervor. Das Kontrafagott brummt, die Säge singt. Spekakulär natürlich die riesige Schlagzeug-Besetzung, die das Intermezzo nach dem ersten Akt ganz allein bestreitet; mit einer Energie, dass man fürchtet, es könnte der letzte sein, weil das Haus einstürzen wird. Es ist mitunter äußerst laut, auch der gut präparierte Chor tut sich kurz vor Ultimo keinen Zwang an in Sachen Ohrenbetäubung. Aber Schostakowitschs Musiksprache hat schon in diesem frühen Stadium mehr zu bieten als Wucht und kunstvollen Krakeel. Das Zeitungsannoncen-Oktett ist so ein leises Perlchen, auch die Choralparodie; und es gibt auch einmal solche weit atmende waste-land-Orchesterdepression, dass man unkt, Schostakowitsch habe bereits hier die todernsten Seiten seiner künftigen Klangsprache verulkt.
Dass es sachgemäß schrill wumst und bumst und doch jederzeit stille Töne aufblühen können, spricht fürs Dirigat des baldigen Komische-Oper-Chefdirigenten Ainārs Rubiķis. Um sich ein genaueres Bild von ihm zu machen, darf man auf Rubiķis‘ erste Premiere der neuen Saison gespannt sein, Korngolds Die tote Stadt.
Bis dahin wollen wir uns bemühen, uns den Namen des neuen Generalmusikdirektors der Komischen Oper zu merken. Und vielleicht sogar herauszufinden, wie man diese kleine Nase unter dem k ausspricht.
Fünf weitere Aufführungen der Nase bis Mitte Juli
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Ich fands sehr schön. Koskys bunter Stil gefällt mir nicht immer, aber bei Die Nase passt es, und auch wenn das ein oder andere unklar bleibt – dass die Kathedralszene auch dort spielt, wird zu spät deutlich -, und das Optische die Musik manches Mal in den Hintergrund drängt, wird toll gespielt und gesungen. Ja, die musiklosen Varieté-Einlagen der Tänzer waren mir zu lang. Gogols Erzählung ist aber auch ein echter Volltreffer.
Ihre Besprechung macht neugierig auf einen Besuch der Vorstellung. Ich werde mich am kommenden Wochenende nasifizieren lassen.