Klangsprungpendelnd: Norrington dirigiert Mozart und Bohuslav Martinů beim DSO

Note to self für wenn 84 Jahre alt: ein Beispiel an Sir Roger Norrington nehmen und nur noch mehrjährige Projekte starten. Kaum hat er seinen Vaughan-Williams-Zyklus beendet, beginnt er wieder beim Deutschen Symphonie-Orchester in der Philharmonie mit dem Tschechen Bohuslav Martinů (1890-1959): sechs Sinfonien, alle relativ spät im amerikanischen Exil entstanden. Die letzte 1953, die hier gespielte 1. Sinfonie von 1942.

Viersätzigkeit und Form der Sätze scheinen konservativ, Sprache und Wirkung aber sind hochoriginell und die Mischung aus alledem höchst hörenswert. Wie eine Klangexplosion wirkt das mehrmalige Anrennen, das den ersten Satz Moderato eröffnet. Um nicht mehr aufzuhören, dieses Anrennen. Auch die charakteristischen Pendelbewegungen später wirken wie eine Variante dieses Klangsprung-Impulses, der den ganzen Satz antreibt. Die Steigerungen und Soundballungen sind ein Live-Erlebnis höchster Güte, zumal wenns gegen Ende des kompakten ersten Satzes mit Leuchtkraft nach Dur zurückpendelt. In Aufnahmen wohl nicht annähernd erfahrbar.

Man kann nicht Martinů sagen, ohne Türmerwohnung und Glocken zu sagen. Dort, im Städtchen Polička, verbrachte er seine Kindheit, den Glockenklang meint man auf mysteriöse Weise immer mitzuhören. Er wird aber nicht direkt nachgeahmt wie in bekannten Glockenmusiken, sondern ist eher auf höhere, sehr rhythmische Ebene katapultiert: so eine Art rauschhafter Tonspiele aus Pendelbewegungen. Hochsinnlich, aber unschwülstig. Prägnant der trocken treibende Klang der Harfe (Elsie Bedleem).

Das lebhaft Tänzerische, das Martinůs Musik ebenso auszeichnet, wirkt naturgemäß am direktesten im Scherzo, hier an zweiter Stelle. Tolles Oboensolo von Thomas Hecker und sehr spezielle Klangfarbe im Trio, wenn sich Holz, Harfe und Klavier begegnen. Ganz anderes Gewicht hat dann das Largo, komponiert kurz nach dem Massenmord der SS im tschechischen Lidice: einsetzend mit dem schweren dunklen Klang von Tamtam und tiefen Streichern, und auch hier dann dieses eigentümliche Pendeln ins Helle – und um so tiefer zurück. Eine unerwartete emotionale Intensität, ausschwingend düster, dabei aber wieder kompakt geformt, ohne dass es sich so waste-land-mäßig ausmähren würde wie ein Schostakowitsch-Largo. Ein erschütternder Satz, in dem am Ende Luftschlangen in die Höhe strömen.

Die sprunghafte Fröhlichkeit des Finales ist danach allerdings schwer verdaulich, trotz des innigen Flötensolos von Gergely Bodoky, das der martialischen Schlagseite und dem penetranten Optimismus des Schlusses entgegensteht. Ein Kehraus als Reißaus vor dem Schrecken?

Das DSO hat bereits vor drei Jahren Erfahrungen mit Martinů gemacht und ist nun so begeistert wie kompetent dabei. Roger Norrington, der von sich sagt I forget names but fortunately I don’t forget tunes, ist wie stets von blendender Laune. Er dirigiert vom Drehstuhl aus, mit dem er sich gern immer wieder dem Publikum zuwendet; allein sein amüsiertes Nicken löst allgemeine Freude aus.

Haffner-Serenade (Symbolbild)

Kurios, mit welchen Volten Programmheftlinge Zusammenhänge herstellen: etwa zwischen Martinůs Amerika-Exil und der Tatsache, dass eine Salzburger Hochzeitsmusik von 1776 ja im gleichen Jahr entstanden sei wie die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Nun ja.

Den Zusammenhang von Martinůs Sinfonien zu Wolfgang Amadeus Mozart erklärt Norrington indes ohne larifarige Umschweife: Warum sollte ich sie nicht mit den sechs letzten Mozart-Sinfonien kombinieren? Eben. Da die sechstletzte (Haffner-Sinfonie KV 385) aber zu kurz sei, griff er auf die viel früher entstandene Haffner-Serenade zurück, die freilich wiederum zu lang wäre, so dass wir letztlich eingangs die von Mozart selbst zusammengekürzte Sinfonie aus der Haffner-Serenade D-Dur KV 250 hören.

Warum nicht.

Die Serenadensinfonie hat mehr Gestik als Entwicklung, und wenn man sie schon nicht im Freien hören kann, würde man wenigstens gern ein Gläschen Prosecco dazu trinken oder wenigstens einen Aperol Spritz. Spaß machts trotzdem.  Mozarts verblüffende Surprises holen die Aufmerksamkeit des Hochzeitsgastes im Garten der Haffners immer wieder vom Dekolleté der Nachbarin zur Musik zurück. Norrington ermuntert die Zuhörerschaft zu serenadenhistorisch informiertem Zwischenapplaus.

Achtung, in 361 Tagen dirigiert der 85jährige Roger Norrington dann Mozarts Linzer Sinfonie und Martinůs Zweite. Welchen Sinfonien-Zyklus er 2024 mit 90 beginnen wird, steht noch nicht fest.

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