Klanggärtnerisch: Takemitsu und Beethovens Neunte im Konzerthaus

Was tun mit der übergroßen, entsetzlichen Neunten? Nichtspielen ist auch keine Lösung. Fürs Abschaffenwollen würde man am Ende noch vom Teufel geholt, wie Adrian Leverkühn.

Iván Fischer tut also im Konzerthaus zweierlei, um den Panzer unserer Ohren und unserer Herzen aufzubrechen.

Erstens: Die Kontrastfolie zur Neunten besteht hier nicht in Schreckensklängen (etwa Schönbergs Survivor from Warsaw wie früher bei Gielen und jüngst bei Jurowski), sondern in Schönklängen. Wobei dieses Wort ohne jeden abwertenden Beigeschmack zu verstehen ist, wenn es um Tōru Takemitsus Family Tree (1995) geht. Denn so betörend schön das tönt, so tönt es auch betörend schön schmerzlich und betörend traurig hoffnungsvoll.

Musical Verses for Young People ist das halbstündige Stück untertitelt. Die japanischen Verse des Dichters Shuntarō Tanikawa werden von der 15jährigen Tochter Hannah Yukiko der Konzertmeisterin Sayako Kusaka gesprochen. Worte von der Lebensschwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein: Es regnete Schlangen in meinen Träumen / und ich wurde geboren und starb immer und immer wieder, wie es im ersten von sechs Gedichten Es war einmal heißt: Jetzt bin ich hier.

Die Musik dazu illustriert und interpretiert weniger als dass sie assoziiert – und oft auch einfach nebenher fließt und funkelt. Sehr sinnig schreibt Volker Merten von einem Gang wie durch einen Klanggarten mit einzelnen Blumen. Kommt einem die Musik in den ersten Minuten noch etwas allgemein, ja beliebig vor, entfaltet sie in ihrer nuancenreichen Eingängigkeit bald berührende Wirkung. Der ständige Wechsel zwischen absteigenden, schwermütigen Figuren und aufsteigenden, in Zukunft und Himmel gerichteten Bewegungen ist ergreifend. Bald hört man einen Ozu-Film, bald einen gedämpften Miyazaki-Film. Manchmal denkt man auch an den Abschied im Lied von der Erde; hier ist sein Gegenbild, die Begrüßung, doch auch in ihr ist Ewigkeit. Und wie jedem Ende Anfang innewohnt, so jedem Anfang Ende.

Die schönsten Blumen in diesem Klanggarten sind Kusakas Violine und Yubeen Kims Flöte. Akkordeon, Celesta, reiches Schlagwerk bilden aktive Bodenorganismen, aus denen es erblüht.

Dass man die Stimme des Mädchens durch ein Mikrofon hört, also in irritierender akustischer Fremdheit zum Orchesterklang, stört hier ausnahmsweise nicht. Die Erzählung tönt ja aus traumhafter Ferne, zart und drastisch und voller Liebe. Der Opa, den eine Eiche anschaut. Das Sterben der Oma: Sie atmete so zornig / nicht auf natürliche Weise / sondern als ob jemand ihre Brust aufpumpen würde. Der fremde Vater, ersehnt und sich sehnend. Die trinkende Mutter: Ich wollte, dass du jetzt nach Hause kommst. / Du kannst weinen und wütend werden, alles was du willst. Und schließlich ein ferner Ort: das eigene Leben. Wenn ich so weiterlaufe, wo werde ich enden? / Werde ich aufwachen und eine alte Frau sein?

Dem steht die Hoffnung auf wenigstens einen Menschen entgegen, den ich lieben kann. Und die Zuversicht, mit der der Zyklus endet: Ich bin mir sicher, dass ich weiter als das Meer gehen kann.

Es regnete Schlangen in meinen Träumen / und ich wurde geboren und starb immer und immer wieder. Er wolle kein Spielverderber sein, sagt der Sohn des Konzertgängers in der Pause, aber man könne im Traum nicht sterben. Ist das so? In der Sprache und in der Musik geht alles.

Wenigstens eine Menschheit, die ich lieben kann: Der 9. Sinfonie d-Moll von Ludwig van Beethoven tut die Begegnung mit Takemitsu gut. Nicht nur, weil die vor genau hundert Jahren erstmals in Japan, und zwar in einem deutschen Kriegsgefangenenlager, aufgeführte Neunte (Daiku) heute nirgends so heiß geliebt wird wie in Japan. Sondern weil auch der verzweifelte Beethoven weiter gehen wollte als das Meer.

Das Konzerthausorchester begegnet der Neunten auf Iván-Fischer-Art: keine Großformbezwingung, sondern ebenfalls wie auf einem Gang durch einen Klanggarten. Überraschende Gewächse gibt es da, etwa die doppelkelchige Paukenblume direkt vor dem Dirigentenpodest statt in der üblichen Ecke hinten. Eine frappierende Idee, die beim Hören dann aber nicht ganz überzeugt: Die exponierte Stellung raubt der Pauke im Scherzo paradoxerweise ihren Effekt, weil das Überfallartige flöten geht.

Wieder einmal als sinnig erweist sich dagegen, dass der Klanggärtner Fischer die Kontrabässe hinter dem Orchester einpflanzt: Die sturmzitternden Bögen in der Reprise des Kopfsatzes stehen so auch optisch im Mittelpunkt. Und doch, der Konzertgänger hats geprüft, sieht man das Sturmzittern auch mit geschlossenen Augen.

Vor allem aber, was man im einzelnen auch einwenden mag, hat Fischers Dirigieren und das Musizieren unter Fischer jederzeit Herz. Das gilt auch und erst recht für das Zweitens vom Zweierlei, das Fischer unternimmt, um den Panzer unserer Ohren und unserer Herzen aufzubrechen. Und das ist ein so problematischer wie überwältigender Coup.

Nur sollten Sie, wenn Sie erwägen, das Konzert am Samstagabend oder Sonntagnachmittag noch zu besuchen, die folgenden Absätze nicht lesen!

Ich habe verstanden und will fortfahren zu lesen (bitte ankreuzen): Ο

Fischer hebt die Dissonanz, mit der das Finale beginnt, nicht durch etwelche Brachialität hervor, vielleicht weil es ohnehin zwecklos wäre, uns dessen einstige Drastik heute erfahrbar machen zu wollen (etwa durch die Unterbrechung der Sinfonie, mit der es die oben erwähnten Gielen und Jurowski taten). Die Dissonanz stürzt nicht über uns herein, sondern schwillt wie hinten herum an. Die Tiefe, aus der ein paar Minuten später das Freudethema auftaucht, ist aufgrund der Kontrabass-Aufstellung eine Höhe, kurios.

So geschieht hier alles etwas ungewohnt und indirekt – bis der Chor uns in einer ungewohnten Direktheit erwischt: Der sitzt nämlich nicht auf dem Chorbalkon, sondern inkognito im Parkett verteilt und beginnt überraschend von allen Seiten zu singen. Da ist man so choqué wie euphorisiert. Zugleich befürchtet man das Schlimmste für die Koordination. In der Tat muss Fischer mit haarigem 360-Grad-Dirigat die Fäden irgendwie zusammenhalten. Heftiges Im-Kreis-Rudern ist das, nicht nur optisch, und man löge, wenn man Balanceprobleme leugnete. Aber noch heftiger löge man, wenn man den kolossalen Effekt der Chose leugnete, die weite Auffächerung der Stimmen im Raum, ja das Baden im Klang der Stimmen. Dieser Kuss erreicht wirklich die ganze Welt, denn er kommt mitten aus ihr. Was für eine erstaunliche Utopiebelebung.

Dem Rundfunkchor war dieses Unternehmen vielleicht zu haarig. Jedenfalls wurde er recht kurzfristig durch den Transylvania State Philharmonic Choir ersetzt, was im Publikum vor Konzertbeginn nicht nur Begeisterung auslöst. Die Leistung des rumänischen Chors ist unter diesen ungewöhnlichen Bedingungen schwer zu beurteilen. Anders sieht es mit den überragenden vier Solisten aus, die kaum sichtbar im Orchester sitzen und dann für ihre Einsätze aufstehen und vortreten. Man ist ja bei der Neunten schon froh, wenn Beethovens unmögliche Sängerpartien nicht zu schrillen Entgleisungen oben und dumpfem Rhabarber unten führen. Aber welche Klangschönheit, welche Beweglichkeit, welche Lyrik und Ausgewogenheit man hier zu hören bekommt: Die großartige Besetzung Christiane Karg (Sopran), Gerhild Romberger (Alt), Mauro Peter (Tenor) und Hanno Müller-Brachmann (Bass) ist ein Quartett von Traumgewächsen.

Zwei weitere Aufführungen Samstagabend und Sonntagnachmittag. Wegen der Chorsache ausnahmsweise eher Plätze im Parkett als im Rang zu empfehlen.

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2 Gedanken zu „Klanggärtnerisch: Takemitsu und Beethovens Neunte im Konzerthaus

  1. Prächtige, mutige, schrecklich-schöne Idee mit dem Chor – die übrigens sogar die Umstände zumindest der 2. Aufführung am 23. Mai 1824 im Großen Redoutensaal der Wiener Hofburg abbildet: Da standen die Sangesscharen auf einer Ebene mit dem dicht gedrängten Publikum um das Podium herum. Das muss sich so ähnlich angefühlt haben, als würden „wir alle“ plötzlich zu singen beginnen – und auch Grund zum ekstatischen Jubel über eine einträchtige Menschheit haben …

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