Kammerherzig: Chaya Czernowins HEART CHAMBER und Brittens DEATH IN VENICE an der Deutschen Oper

Auf in die verborgenen Herzkammern

Ambitionierter Programm-November, und das Publikum zieht ziemlich mit: Die Saalgläser an der Deutschen Oper sind eindeutig halbvoll. Denn immerhin gibts hier erst eine anspruchsvolle Uraufführung, Heart Chamber der israelischen Komponistin Chaya Czernowin, dann Benjamin Brittens letzte und längste Oper Death in Venice. Von der befürchteten gähnenden Leere jedenfalls in den besuchten Vorstellungen am 21. und 22. November keine Spur. Und? Erreicht diese Musik nicht nur das Sitzfleisch, sondern auch die Herzkammern des Publikums?

Für die jährliche Novität (eine sehr zu lobende Einrichtung an der Deutschen Oper, unabhängig von den künstlerischen Ergebnissen) hat man weder Kosten noch Mühen gescheut: Der ausgewiesene Neue-Musik-Experte Johannes Kalitzke werkelt beim Orchester im Graben, das Ensemble Nikel ist im Raum verteilt, die Komponistin Czernowin sitzt beim live-elektronischen Realisationsgeschwader des SWR-Experimentalstudios. Vielversprechend direkt ins Herz klingt aber erstmal ein einzelnes Instrument, dem seitlich rechts postierten Kontrabass des Solisten Uli Fussenegger könnte man stundenlang zuhören.

Was dann folgt, mag man kaum bekritteln. Zu reizvoll sind die verblüffenden Klangräume, die um und über und in den Hörern dank neuester versatiler Soundbeamer etc entstehen. Es ist tatsächlich immer wieder, als befände man sich mitten im Herzensdurcheinander der Gedanken und Eindrücke, um die es hier geht. Zwei Liebende, oder Liebenwollende. Und das scheinbar von allüberall singende sechzehnkehlige Vokalensemble täuscht tatsächlich vor, hier hätten sich die Stimmen der beiden Hauptfiguren von ihren Körpern gelöst und aufgesplittert.

Und wie toll, dass zwei solche Sängerpersönlichkeiten wie der vielfach bewährte Bariton Dietrich Henschel und der Verdi-&-Co-Sopran Patrizia Ciofi sich der liebesuchenden Protagonisten annehmen. Sie sind auch auf der Bühne gedoppelt, von inneren Stimmen, deren Lage enger beieinander ist: Der Kontra-Alt von Noa Frenkel und der Tenor von Terry Wey berühren sich immer wieder, wie es Sopran und Bariton nicht möglich ist.

Die komplexen Klänge kulminieren in beeindruckenden Aufwallungen. Musikalische Mittel, die das Potenzial hätten, ein Ehepaar Macbeth oder eine Medea zu wuppen. Die sind aber nicht in Sicht. Claus Guths Regie bietet viel, um das abstrakte Geschehen an den Mensch zu bringen – zu viel vielleicht, und zu Konkretes: schicke Appartments, gestochen scharfe Bewegtbilder auf großer Leinwand (vor- wie rückwärts), affektierte Zeitlupen des Bühnenpersonals. Wie schon in seiner Inszenierung von Beat Furrers Violetter Schnee scheint Guth fast rührend besorgt, denjenigen Zuschauern etwas zu bieten, die die konzentrierte Musik langweilig finden.

Und, vor allem, denen der Text nichts sagt. Die bei klassischen Werken so nützlichen Übertitel scheinen hier fatal: Czernowins flüsterndem Umgang mit Sprache wäre es wohl adäquater, wenn man nur Fetzen verstünde statt Satz für Satz mitzulesen. Zumal manche Sätze doch von einer betulichen Banalität sind, als stammten sie aus einem (in anderen Lebensbereichen ebenfalls sehr nützlichen) Brigitte-Beziehungsratgeber. Wird sie mir meine Freiheit lassen. Will you protect me. Herrjemine.

Überhaupt ist das Geschehen in Heart Chamber für zwei gestandene Bildungsbürger (denn als solche erscheinen Mann und Frau hier jederzeit) doch eine erstaunlich backfischige Beziehungsanbahnung. Und es scheint fast eine Kunst, dass die Figuren einer Oper, die sich um die Liebe drehen soll und nichts als die Liebe und das Innerste der Liebe, einen derart kalt lassen.

Librettisten vor, möchte man rufen, auch in plagevoller Erinnerung an Furrers Violetten Schnee oder Jörg Widmanns Babylon. Und auf die Gegenwartsoper bezogen: Wo ist der neue Henze, der neue Reimann? Oder auch der neue Britten?

In Benjamin Brittens Death in Venice von 1973 (Premiere an der Deutschen Oper vor zwei Jahren und nun wiederaufgenommen) macht der Stoff keine Sorge. Das Wichtigste aber ist, dass hier jeder Hörer spürt, dass diese Musik Blut aus der Herzkammer des Komponisten ist.

I love you, gesteht der apollinische Knuserich Aschenbach sich in der Mitte dieser Oper ein, die Thomas Manns Tod in Venedig sehr treu folgt. I love you, waren die letzten Worte der Frau in Czernowins Heart Chamber, aber zumindest im Ohr des Konzertgängers verpufften sie. Anders hier. Das Alterswerk Death in Venice mag nicht Brittens höchste Schöpfung sein, es scheint nicht so zwingend wie Peter Grimes oder Billy Budd oder auch The Turn of the Screw, und die Apollo-Szene vor der Pause zieht sich doch, bei aller handwerklichen Perfektion. Überhaupt ist Death in Venice insgesamt wohl ein wenig zu lang. Und der Nietzsche-Thomas-Mann-Gegensatz zwischen apollinischem und dionysischem Begehren gehört vielleicht zu der Art von Themen, über die der alte Ingmar Bergman (auf seine religiösen Selbstbefragungen bezogen) resümierte: Ich habe das Problem nicht gelöst, sondern es hat sich aufgelöst.

Und dennoch interessierts einen brennend! Britten hat die Musik beileibe nicht neu erfunden und es auch nicht versucht (insofern verbietet sich jeder Vergleich mit der Avantgardistin Czernowin). Aber was hier aus dem Orchester heraustönt an schlagzeugiger Liebesaufschäumung und gamelanösen Vibraphonbädern, ist einfach fein. Markus Stenz dirigiert vorzüglich, und jedes Zwischenspiel ist ein herrliches sinfonisches Stück. Graham Vicks Inszenierung kommt ohne läppische Venedig-Kulissen aus, beleuchtet das Seelenleben der Hauptfigur dafür in fifty Shades of Giftgrün. (Vorfreude übrigens auf die baldige Wiederaufnahme von Vicks phänomenaler Tristan-Inszenierung!)

Und dann ist da noch der Entscheidende überhaupt: Ian Bostridge als Aschenbach. Der für seine Liedinterpretationen berühmte Tenor ist einfach ein überragender Sprachgestalter. Es ist ein himmelweiter Unterschied zu allen (sehr guten!) Opernsängern, die man hier hört, darunter Seth Carico als multipler verrucht lebenssinnlicher Antipode, in vielen Rollen, die sich alle als Dionysos-Schattierungen entpuppen. Bostridge aber geht mit derartiger Grandezza zugrunde, dass es ein morbides Fest ist. Herrlich die manieriert-verklemmten Gesten, das Singen durch den gehobenen Mundwinkel mit abgespreiztem kleinen Finger. Den aschenbach-thomasmannschen Hyperreflexions-Schwafeleien weiß Bostridge pikiert manche komische Note zu geben. Und bei alldem füllt seine Stimme problemlos den riesigen Saal, als wärs eine Liederkammer. Ein Ereignis ist das, dank Bostridge. Herzkammermusik.

Death in Venice gibts nochmal am 27.11. und 5.12., Heart Chamber am 26. und 30.11. sowie am 6.12.

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