Welcher lebende Pianist kann Bach so schön romantisieren, ohne je ignorant zu wirken? Piotr-Anderszewski-Abende gehören mit dem gedimmten Licht und verinnerlichten Klavierspiel zu jenen unaufdringlich rituellen Ereignissen, von denen man sich wünscht, sie mögen einen am Ende des Lebens eben dieses ganze Leben begleitet haben. Hoffentlich wird Anderszewski nie im Großen Saal spielen. Darum: nicht bejubeln, nicht weiterempfehlen; und wenn doch, nur ganz unaufdringlich.
Im Kammermusiksaal spielt Anderszewski Bach und Beethoven. Im Publikum sitzen auch zwei ziemlich kleine, ziemlich blonde, ziemlich entzückende Mädchen. Ob sie wegen des Wohltemperiertes Klaviers II oder eher wegen der Diabelli-Variationen da sind? Bewährte Kinderklassiker oder eher klassische Kinderbewährung. Oder wärs ihnen eigentlich um Anton Weberns Klavier-Variationen op. 27 gegangen, die ursprünglich auch noch auf dem Programm standen, aber jetzt gestrichen sind? Die hätte man doch gern gehört zwischen Bach und Beethoven.
Für die elende Husterei und andere Ruhestörungen jedenfalls, das sei betont, sind nicht die Kinder im Saal verantwortlich.
Bissl unglücklich, dass es in den konkreteren Programmheft-Besprechungen nur um jene Präludien und Fugen geht, die Anderszewski in seiner Auswahl aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier Teil II nicht spielt. Vielmehr spielt er: C, As, dis, H, Es, gis = BWV 870, 886, 877, 892, 876, 887.
Und bereits nach wenigen Tönen wünscht man sich, es möge nie aufhören. Anderszewskis Spiel ist von vollendeter, jedem Ton nachlauschender Sanftmut, ein inniges Gespräch mit sich selbst. Alles Aggressive scheint ihm fremd, auch große Klangräusche wie in der As-Dur-Fuge klingen zart. Das vorgehende Präludium ist voller Echo- und Nachhallwirkungen, und der sinnend zögernde Schlussakkord klingt fast schubertig. Von himmlischer Länge manches hier, etwa das glasfingrige Pendeln im dis-Moll-Präludium. Der sich hinaushauchende Beginn der sich anschließenden Fuge klingt wie die Erschaffung der Welt. Dann ein gewaltig weites Crescendo. Doch solchen starken dynamischen Kontrasten, etwa auch in der majestätisch beginnenden und später sich abrupt pianissimo umschleiernden H-Dur-Fuge, haftet nie etwas Forciertes an.
Die sechste und letzte Fuge dann, in gis-Moll, versetzt den Hörer tatsächlich in eine Art Jenrückung.
Die plumpe Rückung im Thema von Ludwig van Beethovens Diabelli-Variationen op. 120 hört man nach Bach natürlich zur um so größeren Schande des Themenstellers Anton Diabelli (dem wir freilich dennoch unendlich dankbar sind, denn ohne ihn kein Opus 120).
Anderszewski behandelt den grundlegenden Walzer, den andere Pianisten verächtlich hinrotzen, mit großer Nachsicht. (Anders als etwa kürzlich Michael Abramovich im Pianosalon Christophori, im Rahmen seiner ambitionierten Haydn-Schubert-Beethoven-Reihe, die am 27. Dezember weitergeht). Die Klangfarben schiebenden und lyrischen Nummern sind natürlich Anderszewskis Domäne, erst recht die singenden oder die Nocturne-artigen im letzten Viertel oder das molto-espressive Largo Variation 31.
Das Harsche dagegen oder stellenweise fast Gewalttätige der Diabelli-Variationen ist weniger sein Fall. Ein Fortissimo wirkt nie aggressiv. Auch stärkste Kontraste wirken nie heftig oder brachial. Das könnte man als Mangel ansehen, da doch vor dieser Kontrastfolie die unendlichen Schönheiten dieser Musik einen erst wahrhaft anrühren. Und: Anderszewski zeigt Bizarrerien auf, sehr plastisch in ihren Sprüngen, aber niemals schallende Komik. Fehlt da nicht eine wichtige Ebene?
Fast scheinen die 34 Stücke hier wie eine große, weite Phantasie aus 1001 wundersamen Klangereignissen.
Zeichen grenzenlosen Vertrauens, dass das jüngere blonde Kind schon längst schläft, als Anderszewski noch eine Zugabe spielt: Opus 126 Nr. 1, die Bagatelle G-Dur. Auch die wirkt fast überstaltet, ihr geht das Gelassene, Selbstverständliche ab, das doch zur spätbeethovenschen Jenrückung gehört. Aber tief verinnerlicht ist es, innig selbstgesprächig, berückend schön.