Humanorganisch: Gérard Griseys „Les espaces acoustiques“ mit Vladimir Jurowski

Heimlicher Höhepunkt der Saison, und für die Anwesenden im Konzerthaus Berlin gar nicht so heimlich: Vladimir Jurowski führt mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) und dem ensemble unitedberlin das Spektral-Spektakel Les espaces acoustiques von Gérard Grisey auf. Wenn man nun pingibel darlegte, was es mit dieser „Spektralmusik“ auf sich hat, deren Opossum Magnum das Werk des 1998 gestorbenen Grisey darstellt – ja, da könnte einem die Lust aufs Hören gleich wieder vergehen. Im Blog von musica viva lässt sich das alles akkurat und durchaus unverquast nachlesen, aber es fehlt doch ein entscheidender Hinweis: nämlich dass das eine berauschende Klangerfahrung von überwältigender Schönheit ist.

Und von eminent organischer, vegetativer Wirkung! Dieser Eindruck des permanenten Wachsens von Klängen passt übrigens ganz schön zum Natur-Thema der aktuellen RSB-Saison. Erlebt man das einheitliche Grisey-Ganze, mag man kaum glauben, wie Stück für Stück es seit 1974 entstand, bis es in den 80ern seine zyklische Ordnung fand: beginnend mit einer einzelnen Bratsche und dann mit jedem Abschnitt in wachsender, am Ende riesiger Besetzung.

Von einer Art innerer Unendlichkeit aber scheint bereits dieser über 20minütige solistische Anfang, in dem der meisterliche Bratschist Jean-Claude Velin sucht, tastet, wieder und wieder ansingt. Das ist in einem einzigen Konzert mehr Solo-Bratsche als Erika Musterfrau sonst von der Wiege bis zur Bahre hört – und dennoch aufregend wie sonstwas! Später werden sich wiederholende brachiale Kontrabass-Stöße als eine Art Klangtrampolin fungieren. Und doch tun sich in den eminenten, auch mal dröhnenden oder rauschenden Flächen immer wieder zarteste Inseln auf, so im betörenden Flötenspiel. Da treffen dann die bewährten RSB-Orchestersolisten auf den Flötisten Martin Glück, der zu Jurowskis Neue-Musik-Combo ensemble unitedberlin gehört – auch das eine glückliche, organische Verbindung an diesem Abend.

Selbst die offensichtlichen Brüche im Werk wirken nicht störend: etwa wenn die Musiker plötzlich aufstehen oder husten oder sonstigen Quatsch machen. Auch das wirkt organisch, wie optischer Klang. Und darum wirken diese Spontiwitzchen nicht so zeitgebunden (oder eben vorgestrig) wie in anderen 70er-Jahre-Werken bzw „Aktionen“.

Berauscht ist man also, aber überflutet fühlt man sich nie in diesen anderthalb Stunden: weil die gewaltigen Höhepunkte, Entladungen, Hammerschläge so genau dosiert stattfinden, erst nach langen Dauern – Musik ganz an und nach menschlichem Maß, vielleicht theoretisch fundiert, aber alles andere als abstrakt. Viertel- und Xtel-Töne sind gelebte Humanität (das haben wir auch bei Madonnas ESC-Auftritt gelernt). Und man braucht kein Spektraltheoretisch zu studieren und sich erstmal mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden zum Klangflächen-Ligetismus oder dergleichen auseinanderzusetzen, um diese Musik unmittelbar sinnlich und körperlich zu erfahren: wie da ein Klang aus dem anderen hervorgeht, sanft oder ruppig, und man weiß, alles muss so, genau so sein – obwohl es auch völlig anders sein könnte.

Wie natürliches Wachsen, wie menschliches Leben. Von Werden, Entstehen, Verfall eines Tons spricht Vladimir Jurowski in seiner Einführung vor dem Konzert, und der Hörer mag es als Geburt, Leben und Sterben von Klang erfahren. Die Bedeutung des riesigen Klanggemäldes Les Espaces Acoustiques vergleicht Jurowski indes mit dem Sacre. Unfassbar also, dass das hier – einzelne Teile wurden schon gespielt – die erste Berliner Aufführung des kompletten Zyklus ist. Jurowski gratuliert den Anwesenden dafür, dass sie so mutig und aufgeschlossen erschienen sind. Tatsächlich ist der Saal bei weitem nicht so leer wie befürchtet. Jurowski und dem RSB muss man wiederum dazu gratulieren, so eine Nummer in einem Sonderkonzert zu wuppen, trotz des großen geistigen und organisatorischen Aufwands und eben auch auf die Gefahr hin, dass es einem die Auslastungsbilanz verhagelt.

Und auch wenn das die erste komplette Berliner Aufführung war: die letzte nicht. Die Junge Deutsche Philharmonie und das Ensemble Modern werden in einem Jahr auf Einladung der Berliner Philharmoniker Les espaces acoustiques spielen. Aber Jurowski und das RSB waren die Ersten hierzustadt. Am Dienstag lässt sich das auf Deutschlandfunk Kultur nachhören (obwohl die Raumwirkung eigentlich unabkömmlich ist).

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Ein Gedanke zu „Humanorganisch: Gérard Griseys „Les espaces acoustiques“ mit Vladimir Jurowski

  1. „Heimlicher Höhepunkt“, das glaube ich gerne. Habe leider auch die Sendung auf DLF verpasst. Ja, großen Respekt vor dem RSB, mit Grisey einen ganzen Abend zu gestalten. Rattle wagte das einst nur im Late-Night-Format.

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