Hörstörung (9): Eine Dame singt Tschaikowsky mit

Im zweiten, leider wieder einmal heillos zerhusteten und zerniesten Konzert des unverwüstlichen Dirigenten Zubin Mehta mit den Berliner Philharmonikern binnen weniger Tage (nach Shankar/Bartók am vergangenen Wochenende) kam es – nach einer prachtvollen und klangsatten Interpretation von Edward Elgars schwermelancholischem Violinkonzert h-Moll op. 61 durch Pinchas Zukerman – in Peter Tschaikowskys trotz aller Einwände immer wieder herzzerreißender 5. Sinfonie e-Moll op. 64 zu einer Hörstörung, wie man sie nun nicht alle Tage erlebt:

Eine vornehme, beperlenohrringte Dame zur Rechten des Konzertgängers war es, die sich nicht zu enthalten beliebte, beim Hornsolo im zweiten Satz Andante cantabile con alcuna licenza (welches Tschaikowsky selbst als Lichtstrahl bezeichnete, Adorno hingegen als sonnige Mondnacht auf der Krim schmähte) überaus deutlich mitzusingen.

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Den Konzertgänger erbost normalerweise schon die geringste Störung. In diesem Fall aber: Wer will da urteilen? Wer weiß, ob nicht in dieser vornehmen, beperlenohrringten Dame ein uferloses Verlangen nach Schönheit und eine abgrundtiefe Verzweiflung walten, die Tschaikowskys Verlangen und Verzweiflung nicht nachstehen, aber sich nun einmal nicht in der Verfertigung einer Sinfonie auszusprechen vermögen, sondern nur im überaus deutlichen Mitsingen?

Die größte Hörstörung bleibt ja ohnedies der letzte Satz der 5. Sinfonie.

Und hier nochmal zum Mitsingen (Aufnahme Svetlanov 1967, mit Kaukasus-Diashow):

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4 Gedanken zu „Hörstörung (9): Eine Dame singt Tschaikowsky mit

    • O ja! Dasselbe Stück draußen ist natürlich extrahart. (Schlimm auch: Nachgepfiffen auf der Toilette.)
      Das Thema „Musiker vor dem Konzertsaal“ steht übrigens schon länger in meinem Notizbuch in der Störungs-Rubrik. Ich habe nur bisher gezögert, weil ich keinem Menschen übel will, der mit der Musik sein Brot zu verdienen versucht.

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