Herbstorganisch: Manuel Walser singt Schuberts „Winterreise“

Herbstreise in den Winter

Berghain-Syndrom in der Off-Klassik? Im Weddinger Pianosalon Christophori ist eine organisierte amerikanische Touristengruppe zu Gast. Aber nicht irgendeine: Man erscheint nicht im Reisebus, sondern mit mehreren Taxis. Und, so ist zwischendrin aufzuschnappen, es handele sich um Fachmenschen auf Herbstreise durch Deutschland in Sachen Orgelbau. Mit Manuel Walsers Vortrag von Franz Schuberts Winterreise, am Klavier begleitet von Anano Gokieli, haben die Orgelkundler jedenfalls einen guten Griff getan, sogar einen hervorragenden.

Dabei wirkt Manuel Walser, der an der Lindenoper mal als vorzüglicher Harlekin in der Ariadne auf Naxos zu erleben war, auf den ersten Blick wie ein freundlich-behaglicher Moppel. (Bei Männern darf man sowas schreiben!) Das ändert sich schlagartig, als er zu singen beginnt. Singen? Er durchlebt die Rolle, in totaler Identifikation: Bereits im ersten Lied, das bekanntlich in programmatischem Sarkasmus Gute Nacht heißt, fürchtet man ernsthaft um Gesundheit und Wohlergehen des Sängers. Mögen die Schweißausbrüche auch durch eine Erkältung befördert sein, fügt sich die körperliche Malaise doch aufs Schaurigste in den Untergangszyklus ein.

Denn Winterreise ist ja kein Beweisstück wie Liszts h-Moll-Sonate, mit der eine junge Pianistin zeigt, dass sie sie kann; Schuberts Winterreise gelingt, wenn man sie ist.

Trotz dieser Intensität kippt Walser niemals ins Bellen, auch nicht in den schmetternden Einschüben — seien sie nun verbittert wie im Wetterfahne-Vers Ihr Kind ist eine reiche Braut oder trotzig wie im nietzsche-antizipierend ausrufezeichigen Sind wir selber Götter! in Mut!. Walser hat einen ausnehmend warmen Bariton, den er zielgenau brüchig werden zu lassen versteht. Seine Textdeutlichkeit ist bestechend, er artikuliert präzise auch in atemlosem Gehetztsein (Rückblick). Die Krähe aber singt er gewissermaßem mit verengtem Schnabel, bis hin zur zynischen und ja durchaus misogynen Pointe, die den beharrlichen Aasfresser der unbeständigen Geliebten vorzieht: Krähe, lass mich endlich sehn / Treue bis zum Grabe!

Heftige dynamische Kontraste und starke Tempoverzögerungen zeichnen diese Winterreise aus. Fischer-Dieskaus Forderung, es dürfe keine Zugeständnisse an österreichischen Charme oder Tränenseligkeit geben, wird von Walser voll erfüllt. Dennoch ist die Wirkung nicht, wie ebenfalls Fischer-Dieskau verlangte, vereisend, sondern in ihrer bedingungs- und vorbehaltlosen Verzweiflung stark aufwühlend. Walser ist keine wandelnde Eisleiche, die die nihilistische Existenz verkündet, sondern ein feuriger, durchaus herbststürmischer Winterreisender. Da merkt man den Theatraliker, den Opernsänger. Den Schritt zur kompletten Trostlosigkeit im Leiermann mag er (noch?) nicht gehen. Dafür durchlebt der Hörer die Wanderung mit, fühlt den heißen Stich seines Wurms und träumt von bunten Blumen, als läge er selbst in dieser geheimnisvollen Köhlerhütte.

Was wäre dem Sänger noch zu raten? Vielleicht das Wagnis, Winterreise auswendig zu singen?

Dass der Opernsänger Walser seine kräftige Stimme den vergleichsweise intimen Bedingungen des Pianosalons anzupassen weiß, ist jedenfalls sehr erfreulich. Die Pianistin Anano Gokieli spielt anfangs eher zurückhaltend, aber genau und sachgemäß und dem Gesang dienend. Im letzten Drittel scheint der Klavierpart sich geradezu zu entfesseln, in den zerhackt wirkenden Anfangstönen von Letzte Hoffnung meint man frühe Boulez-Kaskaden zu hören, und Im Dorfe wird der historische Steinway, an dem Gokieli spielt, zum bellenden und rasselnden Kettenhund.

Hinter dem Steinway stehen weitere alte Flügel mit geöffneten Deckeln auf der Bühne des Pianosalons, als lauschten sie der Musik, Echoräume wie die Herzen der Hörer: ein Bösendorfer, ein nussbrauner Érard … Nach dem Konzert setzt sich einer der Orgelreisenden an eins der Klaviere und spielt, im Allegretto-Tempo, das Thema der Goldbergvariationen. Manuel Walser unterhält sich indes mit Bekannten, ganz gesund wirkt er wieder und von behaglicher Freundlichkeit.

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2 Gedanken zu „Herbstorganisch: Manuel Walser singt Schuberts „Winterreise“

  1. „Schuberts Winterreise gelingt, wenn man sie IST“. Was für ein Satz.
    ich, 84jährige Lied-Enthusiastin, habe „einige “ Sänger sie singen hören. Einige -wenige -WAREN sie. Viele (gut gesungen) „konnten“ sie -nun ja. Sie sagen’s. Meist wissen wir ja bald, ob er „ist“ oder „kann „.
    Als ich im August 2015 den damals 26jährigen Manuel Walser in Schwarzenberg hörte, wusste ich SEHR bald: Er IST.- Er (soll ich jetzt sagen-bitte nicht missverstehen!!:) kann (und wie!!) auch anderes. Aber so sehr, wie ihm die Winterreise Herzenssache ist – Dank, dass Sie es auch so sehen.

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