Glühend: Kirill Petrenko bei den Berliner Philharmonikern mit Mozart, John Adams, Tschaikowsky

Keine Hysterie am zweiten Tag, gut so. Nach den Berichten über Kirill Petrenkos erstes Icon_03027_Vhod_Gospoden_v_IerusalimKonzert seit seiner Wahl zum künftigen Chefdirigenten stand auch bei seinem Auftritt am Folgetag überkandidelte Euphorie zu befürchten wie bei einem SPD-Parteitag. Als bräuchten die Berliner Philharmoniker einen Erlöser! Aber zum Glück keine Klatsch-Ekstase vor dem ersten Ton, nur wohlwollender Applaus zur Begrüßung. Und am Ende gibt es zwar standing ovations, aber ohne dass Klatsch- und Bravo-Vordrängler die schreiende Stille nach dem Ersterben des letzten Pathétique-Tons zerstörten.

Bewies Petrenko im vergangenen Herbst mit dem Bayrischen Staatsorchester, dass er auch einem ätzenden Werk wie Strauss‘ Domestica Magie einzuhauchen vermag, ist sein Philharmoniker-Programm merkwürdig genug: Mozart, John Adams, Tschaikowsky. Worin besteht der Zusammenhang? Etwa in der klassikfernen Fünfzahl – bei Tschaikowsky der „Walzer“ im 5/4-Takt, in Mozarts Haffner-Sinfonie das irritierend fünftaktige erste Motto?

Was auf dem Papier beliebig scheint, erschließt sich dem Ohr. 

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Haffner-Sinfonie-Namenspatron

Wolfgang Amadeus Mozarts angeblich so serenadenhaft-heiterer Haffner-Sinfonie D-Dur KV 385 treibt Petrenko die Unbeschwertheit ziemlich aus, so dass sie bei allem Wohlklang ansatzweise zum Seelendrama wird. In der sehr kurzen Durchführung des Kopfsatzes scheinen im Holz winzige Weltenseufzer auf. Die Harmonik hängt beunruhigend in der Luft. Das Andante ist fern von Rokoko-Galanterie, jedes Tänzeln scheint erst aus den Momenten zu entstehen, in denen die Musik zum Erstarren neigt.

Streicher in amerikanischer Aufstellung (1. und 2. Geigen nebeneinander, Konzertmeister Daishin Kashimoto). Relativ groß besetzt, Mozart ohne zeitgemäßes Schlankheits- und Durchsichtigkeitsideal. Aber das Final-Presto („so geschwind als es möglich ist“) könnten auch HAP’ler nicht rasanter.

John Adams‘ The Wound-Dresser für Bariton und Orchester  (1989) passt nicht nur deshalb ins Programm der Philharmoniker, weil der Komponist ihr Artist in Residence ist. Das Walt_Whitman,_steel_engraving,_July_1854Werk nach Kriegsgedichten von Walt Whitman beginnt mit hohen Streichern (Geiger Kashimoto als Klagesolist) und Dauergrummeln der Pauke. Klänge, die eher Schmerz als Grauen vermitteln, mehr meta als physisch, fast eine Schlachtfeld-Idylle.

Doch quer zum entsetzlichen Text wirkt das nicht, denn musikalische Aufwallungen erfolgen exakt da, wo man sie beim flüchtigen Lesen von Whitmans freirhythmischen Langzeilen erwarten durfte: to die for you, if that would save you etwa oder yet deep in my breast a fire, a burning flame. Die einsame Trompete (Gábor Tarkövi) erinnert eher an Ich hatt‘ einen Kameraden als an Charles Ives, und das kurze Synthie-Ziepen (Hendrik Heilmann) hat etwas Läppisches.

Aber jede Schmerzensbehaglichkeit vertreibt der großartige, äußerst textdeutliche Bariton Georg Nigl. Mit seiner warmen, kraftvollen Stimme macht er das Feuer von Whitmans visionärer Menschlichkeit ergreifend spürbar; und zeigt deutlich, dass Adams‘ Musik sich nicht des Textes bedienen, sondern dem Text dienen will.

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Tschaikowsky neun Tage nach UA der Pathétique

Wie überirdische Schönheit und unerträglicher Schmerz zusammengehen, zeigt aber doch am besten Tschaikowskys 6. Sinfonie h-Moll op. 74: Die Pathétique ist der heiß erwartete Höhepunkt nach der Pause, in der ein Japaner mit glänzendem Gesicht im Foyer eine Dose Redbull in sich hineinstürzte. Was gar nicht nötig gewesen wäre, denn Petrenkos Tschaikowsky hält wacher, als Taurin es je könnte, und hat dabei nicht so ein ekliges Gummibärchen-Aroma. Zumindest nicht bei Petrenko.

Diese Pathétique erfüllt die optimistischsten Pessimismus-Erwartungen an den Dirigenten, ohne jede Larmoyanz und Sentimentalität, dafür auf höchstem Intensitätsniveau und von tiefster Zerrissenheit. In keinem Moment geschieht ein Spannungsabfall, obwohl die üblichen Berufshuster ihr Schlimmstes tun, um die Übergänge zu zerstören. Nicht mit Petrenko, dessen Intensität nie in eindringliche Einzelmomente zu zerfallen droht, wie es für Konzertgängers Ohr bei Andris Nelsons manchmal passiert.

Obwohl Petrenko auch äußerlich auf äußerste Wirkung bedacht ist (wenn er vor der Musik zurückschreckt oder in Erstarrung den Kopf auf die Brust sacken lässt), gerät er nie in die Gefahr der Äußerlichkeit. Weil alles an dieser Interpretation von innen durchglüht ist. Weil er ein Dirigent zu sein scheint, der aufs Innerste der Musik hört: Zwar schließt er beim Dirigieren nicht die Augen wie ein gewisser Vorgänger, aber gelegentlich wendet er sich ab und senkt den Blick, um nachzuspüren, wie das klingt.

Wenn im ersten Satz die Klarinette (Wenzel Fuchs) ins Nichts erstirbt, dann das Weltall explodiert – ist das ein dankbarer Moment für jedes gute Orchester, klar, aber hat es einen je derart zerrissen? Die Klarinette nimmt dich an deiner Linken, das Fagott an der Rechten, um dich in den kompletten Trübsinn zu führen. Im Allegro molto vivace schnurrt keine E-Lok, sondern der Dampfkessel droht unter dem Hochdruck der Gefühle und Erinnerungen jeden Traum-Augenblick zu bersten.

Kein zu Tode ausgewogener Klang, sondern von solcher inneren Spannung, dass einem manchmal angst und bange wird. Ja, Kirill Petrenko scheint genau der Richtige, um die gelegentlich kühl wirkende Perfektion der Philharmoniker zum Glühen zu bringen. Das ist kein Strohfeuer. Wen schert’s da, ob Petrenko in der Lage oder willens ist, Interviews zu geben?

Dankbarkeit und immense Vorfreude.

Was nicht verschwiegen werden darf: Neuerdings Kartenkontrollen an der Tür zu Block A, wohl damit kein Billigplätzler sich auf einen frei gebliebenen Topplatz setzt. Ja, sind wir hier in Wien? Natürlich käme man leichten Fußes auch im Saal von oben nach A. Vorschlag zur Güte: Wenn schon Türkontrolle, dann bitte das Personal mit Stethoskopen ausstatten und die Atemwege abhören, bevor Zutritt gewährt wird. Danke im voraus.

Weitere Kritiken: Schlatz mit kompetent gehörten Tschaikowsky-Details  /  Berliner Zeitung  /  Tagesspiegel  /  Musik heute  /  Stagescreen.

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22 Gedanken zu „Glühend: Kirill Petrenko bei den Berliner Philharmonikern mit Mozart, John Adams, Tschaikowsky

  1. So, ich habe jetzt die Aufnahme über die DCH zweimal mit geschlossenen Augen gehört 🙂 und muss ganz ehrlich sagen, dass ich die Lobeshymnen dann doch dem Live-Erlebnis zuschlage. 🙂 Zweifellos wird hier eine starke Pathétique gegeben, aber da ist schon noch Luft nach oben, wenn ich etwa an Mrawinski mit der Leningrader Philharmonie 1961 oder auch an Yuri Temirkanov mit dem Kirov Orchestra 1983 denke. Auch ein Vergleich mit dem gleichen Klangkörper bietet sich an und da höre ich eine von mehreren Karajan-Versionen nicht schlechter und die mit David Oistrach 1972 sogar besser.

    • Vor Ihrer systematischen Nachbereitung streck ich die Waffen! Sie haben die große historische Perspektive, ich höre bloß in den Abend hinein …
      Dass Petrenkos eigenartiges Charisma sich aufs Hörerlebnis auswirkt, ist sicher richtig. Ich muss ihn mir mal in Aufzeichnung anhören.

      • Ach was, lieber Herr Selge; bleiben sie ruhig im Harnisch und kämpfen sie mit Schild und Schwert. 🙂 Wir wissen doch, dass sich Live-Erlebnisse und jede Form von „Schallplattenästhetik“ praktisch jeder Vergleichbarkeit entziehen, das liegt in der Natur der Dinge und die Wahrnehmungspsychologie ist ein zu weites Feld. Wenn ich allein die Augen öffne und dem Petrenko zusehe, höre ich schon ganz anders; wie möchte das erst vor Ort gewesen sein. 🙂

        • Ich erlaube mir einmal, meine Ansichten zu live oder nicht, die ich in meinem Forum formuliert habe, hier reinzustellen. Bitte entfernen, wenn das nicht in den Rahmen passt

          Live is live: Konzert, Oper, Kammermusik, Liederabend – Von der Einmaligkeit des Erlebens vor Ort.

          „Live is live“ sangen Opus 1985 und ich liebte das Lied seinerzeit sehr, auch wenn jene sicher nicht an Lohengrin oder Beethovens Neunte dachten. Seit Beginn meiner Leidenschaft für klassische Musik pilgere ich natürlich auch in Konzert- und Opernsäle und versuche die einmalige Aura des Unmittelbaren wiederholt zu erleben. Ich frequentiere ja regional gesehen vor allem folgende Spielstätten:

          – eine halbe bis dreiviertel Autostunde nach Hof (Saale) und Plauen
          – eine knappe Stunde nach Gera und Jena
          – eine reichliche Stunde nach Weimar, Leipzig und Bayreuth
          – anderthalb Stunden nach Erfurt

          Das Live-Erlebnis ist – und man kann das gar nicht oft genug betonen – immer wieder etwas ganz Besonderes, Eigenes, Unwiderbringliches; dass auch enorme Auswirkungen auf unser Hörverhalten auf CD hat. Zumindest glaube ich das; da wird viel Psychologie im Spiel sein. Vielleicht ist der Live-Act sogar DIE Form musikalischen Erlebens, womöglich sogar die einzige: Man mag in seiner Sammlung hunderte Referenzscheiben mit Gänsehautgarantie haben; über die Erlebnisse auf unserer inneren Festplatte, die länger hält als jede digitale und wahrscheinlich sogar über unseren Tod hinaus, geht nichts, aber auch gar nichts.

          Dennoch habe ich es ebenfalls von Beginn an eher mit den Tonkonserven (MC, Platte, CD, SACD, DVD, Blue-ray) gehabt als den Konzertbesuchen. Zu viele Aspekte stehen für mich dem Reisen zur klassischen Musik und dem Genuss vor Ort entgegen. Das beginnt eben mit der Anfahrt, ich hasse Verreisen und Unterwegssein; die Umstände, den Stress. Ich mag keine Menschenansammlungen und schon gar keine Menschenmassen und ich kann ganz schlecht lange auf einer Stelle sitzen und wundere mich immer wieder über die uralten Leute, die sich einen Parsifal lang nicht einen Zentimeter bewegen. Ich stoße immer mit den Knien an der Lehne vor mir an, kann kaum ruhig halten und muss ständig die Beine versetzen.

          Dazu muss wie ich wie stets nach wenigstens 40 Minuten pullern wie eine Bergziege. Des Weiteren das Tragen von Anzug und Fliege oder Schlips bei meist schlechter stickiger Luft und großer Hitze und schon wird mir jeder Kunstgenuss verleidet. Überdies hadere ich oft mit der Klangqualität in den diversen Häusern, die Ticketpreise rechne ich in CDs um, die ich dafür meist in Fülle erhielte und auch mein Freiheitsbedürfnis, jederzeit selbst entscheiden zu können, wann ich was höre, regt sich ständig. Regietheater und ähnliche Possen runden das Thema für mich ab, das ich nunmehr als ein für mich geschlossenes betrachte.

          Fazit: Live ist endgeil, aber zu anstrengend!

          • Interessanterweise sehe ich den imaginaren Petrenko sogar vor mir, wenn ich die 6te unter anderem Dirigat von CD höre. Ich war schon in einigen Konzerten in der Philharmonie, aber so eine Wirkung hatte das noch nie. Wirklich eigen.

          • Sehr eindrücklich und nachvollziehbar formuliert, Herr Enke. Ich setze mal das sinngemäße Zitat eines Komponisten des 20. Jahrhunderts dagegen, ich weiß nicht mehr, wer es war: Die Tonkonserve sei eine Verirrung der Gegenwart, die künftigen Generationen unbegreiflich sein werde.
            Natürlich passt das Thema hierher und sehr gern dürfen Sie auch Ihr Forum hier verlinken (und natürlich umgekehrt).

  2. Tut mir leid, kürzer geht es nicht:

    Hab mir E links gegönnt. Ich mag E links. Mag ich wirklich. Ist halt so.

    Zur Linken eine Dame, die mit Nelsons Wahl auch sehr gut hätte leben können. Sie fand den Tschaikowsky „magisch“.
    Zur Rechten eine Dame, die noch vom gross besetzten Bach eines Richter oder Karajans Mozart schwärmt und die Haffner als zu schnell empfand. Die lächelte am Schluss höflich-säuerlich und schaute ein Stückchen resigniert. Das verstärkte sich, als sich das Publikum allergrösstenteils erhob; ein Trend, dem sie nicht folgen mochte.
    Vielleicht rechnete sie kurz aus, wie alt Thielemann in 15 oder 20 Jahren ist und wie dann seine Chancen stehen, Petrenko abzulösen.
    Ich sass zwar dazwischen, aber neigte stärker zur Linken.
    War an diesem Abend regelrecht ein Linksextremer.

    Am Mozart war mir der zweite Satz der Liebste weil mir dieser Satz nun mal der Liebste ist. Aber die Rahmensätze haben gerockt, das muss ich sagen. Manche Geste Petrenkos, manches Zupacken, manches Stechen in Richtung Musiker schient mir vom Orchester nicht ganz so aufgenommen wie es gemeint hätte sein können. Hier sah mir Petrenko hin und wieder dynamischer, radikaler aus als es dann klang. Das kann an vielem liegen, am Wahrscheinlichsten an meiner Phantasie.

    Platzbedingt bekam ich bei Adams vom Bariton hauptsächlich mit, was aus A und B zurück schallt. Und das ist nicht viel. Verstanden hab ich kein Wort, nahm ihn als zusätzliches einstimmiges Fernorchester und konzentrierte mich mehr auf Kashimoto und Targövi. Damit konnte ich die knapp 20 Minuten ganz gut verleben.

    Banause und Snob, der ich bin, muss ich gestehen: Verschwände heute Tschaikowksy Gesamtwerk von der Welt, es würden Monate vergehen bis ich es bemerkte und ein Leben, bis ich es bedauerte.
    An der sechsten mag ich immerhin das ein oder andere. Zum Beispiel die Bässe am Ende, vielleicht weil sie mich ein bisschen an den Schluss von Schostakowitsch 4 erinnern. Aber an dieser Äusserung sieht man vielleicht eher, wie weit ich gehe um mir gegenüber ein paar Takte PIT zu rechtfertigen… Wie dem auch sei: dieses beharrliche Summen am Schluss – ich hätt es noch lange, lange ausgehalten dem zu lauschen.
    Auch der so beliebte dritte Satz löst bei eigentlich nicht mehr aus, als „das passt gut zu einem Western. Oder zur Marlboro-Reklame“. Mag ich nicht wirklich. So ist das halt. An diesem Abend fand ich das ernstzunehmende Musik. In den Rahmensätzen flirrte stellenweise etwas für mich nicht Greifbares, das ging durchs Rückenmark, kam gar nicht bis zum Hirn und zur Abwertungszentrale für kritisches Denken.

    Vielleicht lag es am Moment, am setting, ich weiss nicht woran. Aber ich war beeindruckt. Die Zeit verflog, es gab keine Leerstelle für mich, kein Atemholen, Konzentration blieb die ganze Zeit hoch weil es etwas gab, was sie wert war, was sie forderte. Ab und an erschütterte es mich. Natürlich Wenzel Fuchs mitschuldig, natürlich Damiano usw. Aber auch die Musik. Das war ernst. Das war ernstzunehmend. Das schüttelte ich nicht so schnell ab, die Pause vor dem Schlussapplaus war würdig, aber ich hätt da noch ein, zwei Minuten im Schweigen sitzen können um das nachwirken zu lassen.
    „Na, sehen Sie“, meinte Dame zur Linke, „das ist doch ein schöner Soundtrack. Das muss man doch lieben“.
    „Lieben“, antwortete ich, „noch nicht. Aber respektieren, respektieren muss ich es.“

    Wenn ich altbekannte Musik an Hand einer Einspielung, einer Aufnahme entdecke und für mich neu bewerte, dann sind das für mich bereichernde Momente. 1000 mal berührt, 1000 mal ist nix passiert, 1001 Nacht usw. So ein Moment war das. Ich bin sehr gespannt auf die DCH-Aufzeichnung, wo ich das etwas nüchterner nachhören werde – wenn die dynamischen Ausbrüche ein wenig komprimiert sind usw. Was das ausmacht (in der Regel bei mir sehr viel, ich bin live-Junkie). Aber immerhin: bin sehr gespannt.

    Petrenko nun. Den konnte ich sehr gut sehen. Und das war sehr gut anzusehen.
    Natürlich sticht das Leidenschaftliche erst einmal heraus. Die durch den Körper fliessende und ihn
    formende Musikalität. Da seht einmal ein Mönch in Meditation, im nächsten Moment bricht ein Dämon hervor, wird der Taktstock zur Feuerpeitsche. Das muss geradezu (Grüsse an die Dame zur Rechten) auf ein Karajan-und-Co.-sozialisiertes Publikum wie Show wirken. Und bei nicht jedem Dirigenten sieht so etwas in jedem Moment authentisch aus. Bei Petrenko wirkt es authentisch, es füüüüühlt sich authentisch an. Auch wenn sein Umschalten von einer Stimmung in die nächste, seine körpersprachliche Behändigkeit lichtschnell von Statten geht, fast unheimlich anzuschauen.
    Das könnte nach Schauspiel aussehn. Tut es aber nicht. Nicht nur, weil es eindeutig und klar und immer und unmittelbar von der Musik und der Klangvorstellung diktiert wird. Sondern weil der Mann eindeutig (mein Eindruck) jederzeit alles genau im Griff hat, jederzeit weiss was er will, hört was er hört und weiss was er hören will. Was hat der Mann für sprechende Hände! Wie verschickt er mit kurzen Blicken seine Botschaften ans Orchester! Dämpft, feuert an, lobt mal die Posaunen mit kurz erhobnem Daumen. Das ist Leidenschaft, Musikalität (der vordringendste Eindruck: da steht ein Musiker!) so sehr wie Kontrolle, feste Vorstellung der Interpretation und Intellekt. Da lässt einer los und hat sich gleichzeitig im Griff. Und das Publikum: Sehr deutlich zB. seine Auffassung zur Beifall-Frage nach Satz 3. – Spannung gehalten, ausgebreitet, das hat jeder verstanden.

    Es muss eine Freude sein, eine Riesenfreude, mit diesem Menschen Musik zu machen, zu erarbeiten und aufzuführen. Ich bin mir sicher, dass wenn er vor das Orchester tritt, er weiss was er will und weiss wie er es bekommt. Und trotzdem kommt auch irgendwie eine Schutzbedürftigkeit bei mir an, eine Zerbrechlichkeit, eine Sensibilität die sich genau wählen muss, was an sich heranzulassen wird und was fernzuhalten. Ich verstehe gut, dass er keine Interviews gibt und als zurückgezogen gilt. Jedenfalls denke ich, ich verstände. In Wahrheit ist es natürlich nicht so.
    Und der Eindruck kommt nicht zuletzt von der kleinen Verwandlung, nach Verklingen der letzten Töne, wenn er die Spannung aufgibt – und sich mit einem Schlag in einen bescheidenen Menschen verwandelt, der fast etwas schüchtern den Applaus (und da haben die Berliner nicht enttäuscht! Das war ein liebevolles Willkommen!) entgegen nimmt.

    Das ist ein Dirigent, von dem ein Stummfilm reichen würde um die Musik zu hören.

    Ich weiss nicht (um ein Tröpfchen Skepsis einzumischen), wie er mit Volkalhelden-Projekten umgeht, wie mit den Late Nights – und meine zu erinnern (mag täuschen), dass er mit Bruckner zB. nicht allzuviel anfangen kann. Aber ich meine auch zu erinnern, dass er K.A. Hartmann schätzt.
    Jedenfalls freue ich mich auf die Zeit mit ihm und den Berlinern. Ich hab in meinem Leben noch zwei, vielleicht drei Chefdirigenten vor mir. Und da ist es schön zu wissen, dass der nächsten jedenfalls ein interessanter und Interesse weckender Mensch ist, der Musikalität ausströmt wie ein Marathonläufer Schweiss.

    Mein Bauch allerdings raunt mir zu: Der Mann hat so hohe Ansprüche an sich und ist dadurch evtl. wenig kompromissbereit – da halte ich es irgendwie für gut möglich, dass er nach Ablauf des Vertrages sagt: das wars.
    Dass ich dies schon jetzt, nach einem Konzert dass meine Repertoire-Vorlieben nur wenig entgegen kam, bedauern würde zeigt mir: so ein bisschen bin ich grad dabei, mich zu verlieben…

    • Ich kann mich nur Herrn Enke anschließen, lieber Podiums-Abonnent: ein Vergnügen, von Ihren Gedanken, Erfahrungen und Gefühlen zu lesen. Vielen Dank für diese „himmlischen Längen“! Bin gespannt, wie Ihre Liebe sich entwickeln wird…

    • Das Konzert ist jetzt abrufbar auf der CDH Seite, ich habe es mir nach den Live Eindrücken in der Philharmonie gerade nochmals angesehen.

      Sie beschreiben die Eindrücke wirklich treffend und sehr angenehm zu lesen, insbesondere die Passage über das Wirken seiner Persönlichkeit im Saal. Auch gerade, beim zweiten mal, merke ich, wie schwer ich mich tue, mich auf den Tschaikowsky einzulassen, stattdessen Petrenko fasziniert beobachte. Eine wirklich außergewöhnlich wirkende Persönlichkeit. Angemerkt: Es gibt auf Youtube eine Aufnahme, bei der Kleiber mit den Wienern probt. Auch hier diese Mischung aus Schüchternheit und fordernden Wissen. Ich kann mir gut vorstellen, dass er den BPO gut tut, vorausgesetzt, dass er fachlich die Klasse haben wird.

      Na, mal sehen wie sich morgen das Konzert dann mit abgeschalteten Bild anhört…..

  3. Mal hier, da ich nicht weiß, wo sonst damit hin. Es ist schade, dass so ein Blog durch seine Struktur schnell in Vergessenheit gerät. Wer scrollt schon wie ich minutenlang nach unten, um Beiträge von früher zu finden. Irgendwann sind so die schönen Postings weg aus dem Blickfeld. Schade.

    • Es sind natürlich so tagesaktuelle Plaudereien, aber Ihr Interesse freut mich… Wenn Sie direkt auf die Startseite https://hundert11.net/ gehen, finden Sie rechts oben ein hübsches gestreiftes Quadrat, über das Sie zur Suchfunktion und zum Archiv kommen. Oder Sie klicken die Schlagworte über den Artikeln an.
      Ansonsten mache ich diesen Blog seit knapp zwei Jahren und bin doch überrascht von den rasant ansteigenden Besucherzahlen. Deshalb werde ich demnächst mit professioneller Hilfe die Oberflächenstruktur überarbeiten, dann lässt es sich hoffentlich bei Interesse zielgerichteter wühlen.

  4. Herr Enke, weil Sie Blomstedt anführen, konnte man den Draht der Philharmoniker zu ihm in dem kürzlich gegebenen Konzert nicht förmlich spüren? Klar, da steht ein sympathischer Senior und der der in dem Konzert agierende Konzertmeister Bendix-Bagley wirkt an sich sehr verbindlich, aber ich empfand das gerade zu spürbar. Auch die 1te von Brahms war einer der besten, die ich je gehört hatte, ich hatte den Eindruck, die Musiker spielen einfach frei auf?

    Herr Selge, ja, Mehta erschien da zu abgeklärt, er gab ja auch zu viele verschiedene Konzerte in Berlin in zu kurzer Zeit als wirklich seinen Stempel aufdrücken können zu wollen. Das wirkte eben nach Bundespräsidentenkonzert, wobei ich Samstag, nicht Sonntag anwesend war.

  5. In meinem Forum schrieb ich:

    Dirigierstile und ihre Wirkung auf den Rezipienten

    Mir ist wieder einmal aufgefallen, wie oft außermusikalische Faktoren unser Hör- und Rezeptionsverhalten beeinflussen und damit letztlich auch unser Urteil über Dirigenten und Klangkörper; zumal in einer Zeit, in welcher das mediale Auftreten nicht mehr von anderen Aspekten der Kapellmeisterkunst zu trennen ist. Dem Agieren am Pult und vor dem Orchester kommt also heutzutage eine enorme Bedeutung zu, die sich nicht mehr auf das handwerkliche Können und den Draht zu den Musikern beschränken lässt. Das trat mir so richtig in mein Bewusstsein, als hier neulich jemand ein Video verlinkte, wo japanische Komiker verschiedene Dirigenten imitierten. Interessanterweise kann ich beispielsweise mit dem Auftreten meiner drei Lieblingsdirigenten nur wenig anfangen; ja das geht so weit, dass ich sie alle wirklich lieber nur höre als sehe: Furtwängler wirkt in den den mir bekannten Aufnahmen irgendwie eigenartig und hölzern-unbeholfen; Karajan ertrage ich nur in seiner frühen Phase, die Mitschnitte der 80er sind in ihrer Selbstapotheose nur noch schwer verdaulich und auch Thielemann glänzt oft durch einen eckigen Auftritt, der mich manchmal an einen bemühten, aber scheiternden Preußenlönig erinnert.

  6. „Obwohl Petrenko auch äußerlich auf äußerste Wirkung bedacht ist (wenn er vor der Musik zurückschreckt oder in Erstarrung den Kopf auf die Brust sacken lässt), gerät er nie in die Gefahr der Äußerlichkeit. Weil alles an dieser Interpretation von innen durchglüht ist. Weil er ein Dirigent zu sein scheint, der aufs Innerste der Musik hört:“

    Ich erkühne mich, das anders sehen zu wollen; auch wenn die DCH dieses Konzert noch nicht freigeschaltet hat. 🙂 Ich urteile von früheren Eindrücken her und oute mich in diesem Zusammenhang auch als Befürworter Thielemanns für den Posten. 🙂 Die Gegensätze könnten größer ja nicht sein … 🙂

  7. Danke, habe das Konzert ebenso live erlebt und ebenso so empfunden wie sie, zumindest was Tschaikowsky angeht. Vor allem scheint Petrenko wirklich innerlich zu glühen, die Dynamik seiner Bewegungen macht nicht den Anschein eines Schauspieles. Welche Gegensatz zu einem Rattle. Es wäre interessant wie nach diesem Auftritt Petrenkos nun zu sehen, ob die Musiker sich durch den eher behäbiger agierenden Rattle locken lassen, was bisher – so mein Eindruck – ja schon in den letzten Konzerten eher sparsam gezeigt wurde.

    Allerdings, ich sass so, dass man Petrenko von vorne sah, die intensiven und raumgreifenden Bewegungen machten es mir teilweise schwer, sich in die Musik zu vertiefen, weil man aus dem Beobachten nicht mehr herauskam, diesbezüglich empfand ich das Dirigat von Mehta der 5ten etwas angenehmer.

    Übrigens, zumindest am Mittwoch war Block A nach der Pause rammelvoll …..

    • Ja, nichts wirkt bei Petrenko aufgesetzt (obwohl ich nichts gegen Rattle habe). Ich finde, oft kann Sehen und Hören verschmelzen, aber es stimmt wohl, dass man sich bei Petrenko manchmal zwischen Sehen und Hören entscheiden muss. Ich höre ohnehin gern mit geschlossenen Augen, war auch gestern sehr lohnend.
      Ich saß in A, war auch schon vor der Pause dicht. Aber wenn in A oder B ein Platz frei bleibt, finde ich es eine Schande, den frei zu lassen – sofern man nicht bewusst auf einem akustisch ungünstigeren Platz sitzen will, wegen des Sehens, einer schönen Nachbarin oder, oder, oder ….
      Mehta war auch gut, aber für mich etwas zu sehr abgeklärtes Handwerk.

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