Freudetafelnd: Freiburger Barockorchester jubiliert Telemann, CPE Bach und Beethovens Neunte

Ludwig van Telemann

Was hat La Neunte nicht schon alles erlebt, was kann man denn da noch draufsatteln? Schönbergs Survivor from Warsaw gabs als legendären Kontrapunkt: Der Dirigent Michael Gielen koppelte ihn sogar zwischen die Sätze 3 und 4. Vladimir Jurowski wiederholte das jüngst und drehte die Schraube noch weiter, indem er den von Mahler gepimpten Beethoven hervorkramte. Sir Simon verstörte sein Abo-Publikum vielleicht noch tiefer, indem er vor der Neunten Helmut Lachenmanns Tableau spielte. Dabei hatte der Teufelsbündner Leverkühn die Neunte doch längst zurückgenommen! Was also kann da noch kommen?

Telemann.

Denn mit Georg Philipp Telemanns e-Moll-Suite aus der „Tafelmusik“ TWV 55:e1 eröffnet das Freiburger Barockorchester sein Jubiläumskonzert zum 30jährigen Bestehen, das mit Beethovens Neunter enden wird. Auch das erste Konzert des FBO in Berlin fand anno 1988 statt, in Friedenau; und seit 19 Jahren hat das FBO nun seine fixe Reihe in der Philharmonie.

Musique de table war wohl schon anno 1733 ein bissl was Rückwärtsgewandtes, aber wie weit kommt man schon bei Telemann und überhaupt mit Rückwärts und Vorwärts? Das FBO stürzt den Hörer mit geschärfter Rhythmik und Dynamik und Phrasierung etcetera pipapo wieder einmal in freudige Verwunderung darüber, dass Telemann als Langweiler vom Dienst galt; vulgo gilt. Nicht hier. Petra Müllejans leitet von der ersten Geige aus. Schön das wiederkehrende Pingpongspiel innerhalb der 20köpfigen Besetzung zwischen je zwei Violinen und Traversflöten. Letzteres Instrumente, die sich schon enorm anstrengen müssten, im weiten Rund des philharmonischen Großen Saals das Klappern des Tafelgeschirrs zu übertönen – wenn es denn klappern würde! Denn das kultivierte FBO-Publikum ist doch der konzentriertesten eines. Es hustet kaum und schimpft übrigens auch nicht; ansonsten wäre ihm nämlich Hintergrundmusik ein Schimpfwort; und tatsächlich würde man bei dieser Tafelmusik das Tafeln vergessen.

Natürlich geht es dem FBO bei der Kombination Telemann – Beethoven nicht um Draufsatteln und Effektgrabscherei, sondern um die Weite des eigenen Repertoires und mehr noch um programmatischen Sinn. So folgt auf Telemann in einem kleinen musikgeschichtlichen Spurt Carl Philipp Emanuel Bachs 1746 entstandenes Clavierkonzert C-Dur Wq 20: chronologisch ein Winzschritt von 13 Jährchen, musikemotional ein großer Sprung für die Menschheit. Kristian Bezuidenhout spielt am und leitet vom Lagrassa-Hammerflügel, 1815. Der Zuhörer erlebt eine ganz andere Ereignisdichte, oder besser gesagt eine andere Art von Ereignissen: Schon der erste Einsatz gleicht einem Überraschungsangriff auf die arglos Ohrtafelnden. Dass die Besetzung gegenüber Telemann um fünf Köpfe geschrumpft ist, kann man nachzählen, aber Ohr und Herz würden es nicht beschwören wollen.

Bezuidenhouts Lagrassa klingt nach Hybrid aus Hammer und Zupfwerk, fast wie ein (Cembalisten mögen weghören) aus seiner Starrheit erlöstes Cembalo. Die emotionale Intensität des langsamen Mittelsatzes wirkt unerhört.

Seid umschlungen, Millionen! (Bundesarchiv)

Vollkommen unerhört klingt auch Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie d-Moll, und Wertvolleres lässt sich bei diesem zu Tode philharmonizierten Werk wohl kaum erreichen. Dass hier keine karajansche Streicherdiktatur herrschen würde, war klar. Aber wie schon in der Exposition das Holz den Streichern gleichrangig gegenübertritt, ist schon famos. Dabei ist der Sound keineswegs (Schreckenswort der aufführenden Historienpraxis) schlank, sondern es kommt zu infernalischen Klangballungen, die einen auf die Stuhlkante treiben. Wo man bis Ultimo verbleibt, auch wenn das Sitzfleisch auf der Kante kneift. Es klingt schroff hier, aber gleichzeitig sind die Kräfteverhältnisse viel ausgewogener als im süffigsten Schönklang.

Zügige Tempi und mit dem Streichholz angesengte Punktierungen verstehen sich von selbst. Das Scherzo brodelt vulkanisch, einer mitgerissenen Choristin hälts im stummen Warten kaum den Kopf auf den Schultern, ganz zu Recht. Das rasante Trio hebt fast ab; und wie der kurze nochmalige Anriss des Trios abreißt, lässt einen ins Bodenlose stürzen. Wo das Adagio molto e cantabile einen in, erneut, unerhörter Schönheit birgt.

Die schnarrende Tiefe der Bässe zu Beginn des Finales ist enorm. Überfallartig aber sind hier nicht nur die eröffnenden Dissonanzen, sondern auch das rasche, ja wütende Hereineilen des Bassisten Tareq Nazmi zur Seitentür: O Freunde, das ist mal ein wirksamer Einspruch! Der Tenor Julian Prégardien tritt später eindrucksvoll hervor. Was man von Anna Lucia Richter und Sophie Harmsen aus der Mitte des Chors hört, lässt einen bedauern, dass das Weibsvolk nicht solistisch nach vorn darf. Bei Beethoven werden nun mal alle Menschen Brüder, nicht Brüder und Schwestern. (Wäre das nicht mal eine Aufgabe für eine tollkühne Komponistin, eine feministische Überschreibung des Finales zu wagen?)

Der RIAS Kammerchor überzeugt wie gewohnt durch perfekte Klangstaffelung, auch wenn ihm die Sinnlichkeit nicht immer aus jeder Pore spritzt. Gottfried von der Goltz dirigiert die Sinfonie sicher und souverän, vielleicht könnte er gelegentlich die Zügel lockerer und den Klang sich freier entfalten lassen?

Dass die Marschmusik mit Großer-Bums-Trommel vorn am Podiumsrand sitzt, macht das spektakelige Element der Neunten auch optisch schön deutlich. Und das drei Meter hohe alte Kontrafagott, das wie ein Geschütz aus dem Orchester aufragt, ist sowieso mindestens so ein Hingucker wie Hinhörer.

Die behämmerte Trinkliedhaftigkeit, die Beethoven zur Ode an die Freude umcollagierte, spürt man immer noch sehr. Und so schließt sich irgendwie doch der Kreis von Beethovens Freudetrunkenheit zu Telemanns Tafelfreude.

Eine schöne Idee ist es, zum Anlass 30 Jahre Freiburger Barockorchester das Publikum zum nachkonzertlichen Bleiben im Foyer einzuladen. Dass es an der Bar dann Getränke nur für Musiker gibt, aber Gäste nichts mehr kaufen dürfen, ist jedoch ein gelinder Partycrasher.

Nachtrag: Anderen Gästen wurden dann doch Getränke verkauft. Seltsame Dinge erlebt man manchmal mit dem Servicepersonal in der Philharmonie. Am FBO lags nicht.

Die nächste Berliner Saison des FBO beginnt im Oktober.

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