Fremdschaftlich: Ein Claude-Vivier-Abend mit dem ensemble unitedberlin und Vladimir Jurowski

Bloß auf der Hut sein vor Künstlermythen bei einem Komponisten, neben dessen Leiche im Jahr 1983 blutbefleckte Papiere gefunden wurden: und darauf ein Werk, dessen Text eben das beschreibt, was ihm am Ende widerfuhr. Einer verlässt die Wohnung, gabelt einen Mann auf und wird von diesem getötet — zog er einen Dolch aus seiner tiefschwarzen, wahrscheinlich in Paris erstandenen Jacke, und stieß ihn mir mitten ins Herz. In diesem Moment reißt die Musik ab, so wie das Leben des 1948 geborenen Frankokanadiers Claude Vivier abriss. 35 Jahre hatte er da gelebt, seit 35 Jahren ist er tot. Und so widmet ihm zum 70. Geburtstag das ensemble unitedberlin unter der Leitung von Vladimir Jurowski einen aufwändigen Abend im Konzerthaus. Wunderbare Gelegenheit, mit Vivier Fremdschaft zu schließen.

Denn vieles ist befremdlich, manches fremd bleibend, anderes aber wird aufregend fremd.

Durch manches muss man allerdings erstmal durch. Etwa das musiktheatralische Sponti-Getue der frühen Hiérophanie (1970/71), in dem verschiedene Bläsergruppen im Raum herumfluktuieren, sich setzen, stellen, legen, die Instrumente vertauschen, auch mal Kinderlieder singen und spielen. Alles immer etwas hüftsteif. Später tritt eine Sopranistin (Aurélie Franck) dazu, die barfüßig Hymnen anstimmt. Dieses Gegenüber von Der Kuckuck und der Esel und Salve Regina als Inszenierung oder gar Ritualisierung von Mircea Eliades Aufscheinen des Heiligen im Profanen (Mircea Eliade) auf sich wirken zu lassen, erfordert schon einigen guten Willen. Und die so schnieken wie witzigen, aber allzu nostalgischen 70er-Jahre-Kostüme (Susanne Weiske) heben die Hürde in dieser szenischen Einrichtung von Anisha Bondy zusätzlich.

Auch über Viviers eigene Äußerungen, die der Sprecher Max Hopp zwischen den Stücken zitiert, muss man erstmal drüber: Offenbarung, Wahrheit, Universum, heilig, immer, absolut usw hagelt es da auf einen ein. Kunst als heilige Handlung – Musik also als Popeia-Sekte, wie bei Stockhausen? Wenn man so auratische Begriffe in so hoher Frequenz setzt, werden sie leicht zu Fragmenten einer sinnfreien Fantasiesprache. Wie das La i nou ka rès sho no yo, das Vivier in einem anderen Werk singen lässt – und viel tiefer wirkt als das Aura-Vokabular.

Der Begriffssuperlativismus weist aber doch auf das Anliegen, die äußerste Dringlichkeit, ja das Leid in Viviers Schaffen hin. Das droht in 70er-Jahre-Szenische-Aktions-Folklore zu versinken, wenn Hopp schon vor Konzertbeginn jeden Eintretenden mit alberner Segensgeste umwedelt und fragt: Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele? Die Frage muss das ewige Waisenkind Vivier, das wegen seiner Homosexualität aus dem Priesterseminar flog, todernst gemeint haben, nicht als Türsteher-Witz. Und dass jeder Besucher, der seine Sinne beisammen hat, mit Nein antworten wird, wird das nicht Vivier eine unsägliche Qual gewesen sein?

Von diesen Tiefen- und Höhendimensionen legt die ungeheuer aufregende, ungeheuer reiche Musik dieses Abends ungeheures Zeugnis ab. Reisen zu fremden Stätten und in fremde Städte: Et je reverrai cette ville étrange heißt ein Stück von 1981, das mit einer langen Pause (!) beginnt. Dann Bratsche, Cello, Kontrabass, Klavier und Trompete über weite Strecken unisono, dazu indonesierendes Schlagwerk, das ist von einer archaischen und rituellen Kraft und dabei so wirkungsvoll direkt, dass sich Assoziationen einstellen wie Messiaens Endzeitquartett. Oder gar (man traut sichs kaum zu schreiben) Michael Nyman, zumal wenn man diese Aufnahme hört, schneller als die wunderbar getragene Interpretation im Konzert mit Jurowski:

Den Namen einer zugleich wirklichen und fantastischen Stadt trägt Bouchara (1981), das vielleicht vielschichtigste Stück des Abends. Splitter einer begonnenen Oper über Marco Polo und zugleich als ein langes Liebeslied gedacht, basierend auf einer erfundenen Sprache, einer Sprache der Liebe (Sopran Allison Bell in einer existenzialistisch schwarzen Wurstpelle mit freier Schulter und ebenfalls barfuß). Auch hier fernöstliches Schlagwerk, getragene Rhythmik, schillernde Klangfarben. Mehrfaches Anschwellen – und perplex machender Schluss, wenn völlig überraschend der Klang eines Nebelhorns aus der entgegenliegenden Ecke des Raums kommt – von einem Tonband am Ende des Universums.

Auch dieses Stück hätte man gern in Wiederholung gehört, wie es mit dem achtminütigen Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele? an Anfang und Ende des Programms geschieht. Hier verbindet, oder verbindet sich aufgrund der Gegensätzlichkeit eben explizit nicht, das 12stimmige Vocalconsort Berlin mit Synthesizerklängen und Schlagwerk zu einem unruhigen Klanggrund, aus denen dann in einer packenden Steigerung die Erzählung des Sprechers hervorbricht, die mit dem oben erwähnten Dolch mitten ins Herz im sudden death endet. Hopp spricht das nicht lapidar, wie das Programmheft ankündigt, sondern in höchster Erregung. Und in einen stark verzerrenden Vocoder hinein: so dass seine Stimme beim Betreten der Pariser Metro klingt, als betrete sie das Spaceship in die Ewigkeit.

Verwandlungen. Und was konzertgängerseits Claude Vivier angeht: der Beginn einer wunderbaren Fremdschaft.

Kritik im Tagesspiegel

Nächstes Konzert des ensemble unitedberlin am 15. April.

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