Zerreißen müsste der Konzertgänger sich können! An der Komischen Oper feierte eine Mussorgsky-Rarität Premiere, an der Deutschen Oper Götz Friedrichs legendärer Ring Derniere, zehn andere Köstlichkeiten nicht zu vergessen … ach, und im Pierre-Boulez-Saal gibt’s nichts Geringeres als ein Quartettfestival. Nach dem Staatskapellen-Streichquartett (da war der Konzertgänger im Rheingold) und einem Haydn-Marathon des famosen Hagen Quartetts (da war Walküre, seufz) spielt das Michelangelo String Quartet drei grundverschiedene Erstlinge. Beethoven, Bartók, Smetana. Am Abend zwischen Walküre und Siegfried.
Wie gut passt dieses Programm in den Boulezsaal und zum Geist der Barenboim-Said-Akademie: Ein west-ost-nord-südlicher Divan ist das, da spielt nämlich ein rumänisch-russisch-japanisch-schwedisches Ensemble deutsch-ungarisch-tschechische Musik. Ein Mehr-Generationen-Quartett außerdem, das älteste Mitglied ist 74, das jüngste 33. Paritätisch besetzt mit zwei Frauen (erste Geige und Bratsche, außen sitzend) und zwei Männern (zweite Geige und Cello, innen sitzend). Was will man mehr?
Ja, was will man mehr? Vielleicht das gewisse Etwas, das ein organisches Ensemble einem Quartett aus vier hervorragenden Solisten doch voraus hat.
Dass eins der Werke schlecht gespielt wäre, davon kann ja nicht die Rede sein. Ludwig van Beethovens erstes (erhaltenes) Streichquartett F-Dur op. 18/1 tönt zart und leicht. Aber der Konzertgänger hat, bei aller Brillanz, ein wenig den Eindruck, dass jeder der vier für sich spielt, dass nicht viel Kommunikation stattfindet. Kann man es hören, wenn ein Quartett sich nicht anschaut?
Es fällt auch auf, dass die zweite Geige (Daniel Austrich) zurückhaltender ist, dafür sauberer spielt als die erste (Mihaela Martin), die einen großen Ton hat, aber auf der E-Saite manchmal etwas zweifelhaft intoniert. Ist die Musikerin vielleicht irritiert von der fast beklemmenden Nähe des Publikums? Denn es sind wieder, verständlich bei der erfreulich hohen Ticket-Nachfrage, drei zusätzliche Stuhlreihen in den Boulezsaal gestellt worden, vor die steil ansteigenden Ränge. (Schön für die noch Reingekommenen, doof für die in der „eigentlichen“ ersten Reihe, deren ebenerdige Sitze niedriger sind als die davor gestellten Stühle.) Das verstärkt den heiklen Effekt, dass in der klaren Saalakustik das Publikum den Musikern quasi direkt ins Ohr husten kann. Eine Möglichkeit, von der es leider weidlich Gebrauch macht. Man kann sich nur entschuldigen und den Musikern wünschen, dass sie sich wenigstens nicht angesteckt haben.
Die Zusammenstellung des Programms ist reizvoll. Ist das nicht später Beethoven? fragt man sich im eröffnenden Lento des nächsten Erstlings, Béla Bartóks 1. Streichquartett a-Moll op. 7 Sz 40. Aber nein! Es ist doch Richard Wagner! Der wollte wohl auch mal was wie Beethovens opus 131 komponieren statt nur darüber zu sinnieren. Das Michelangelo-Quartett zeichnet brillant und engagiert das weite Klangspektrum dieser Musik, doch ohne dass wirklich fesselnde Klangballungen entstünden.
Ähnlich ergeht es einem der schönsten, an sich bewegendsten Streichquartette überhaupt, Bedřich Smetanas spätem Erstling Streichquartett Nr. 1 e-Moll, das den Beinamen Z mého života (Aus meinem Leben) trägt: engagiertes Spiel, ohne dass es völlig in seinen Bann schlüge. Wie stark liegt das am Saal, der (im Parkett) Klänge nicht leicht miteinander verschmelzen lässt, sondern nebeneinander ausstellt? Die Polka schwelgt nicht recht, das viergestrichene Tinnitus-E im Finale will nicht scharf schneiden.
Dem stehen auf der Habenseite erstrangige Solisten gegenüber: Schon das eröffnende Thema im Kopfsatz spielt die Bratsche (Nobuko Imai) hinreißend, der Gesang des Cellos (Frans Helmerson) im Largo sostenuto ist traumhaft schön. Ein jedes für sich. Vielleicht hat man es so mit einem weiteren Erstling zu tun: der ersten Begegnung eines interessanten Ensembles mit einem Saal, den es auch kennenlernen muss.
Dennoch! Vivat Streichquartett. Ein naseweiser Tagesspiegel-Kritiker kündigte vor ein paar Jahren diesem Genre den baldigen Untergang an. Der ist wohl verschoben worden, elysische Tage und Wochen stehen uns bevor. Das Quartettfestival des Boulezsaals endet Donnerstag mit dem Belcea-Quartett, das in der nächsten Saison eine eigene Reihe haben wird (eventuell Restkarten). Gleichzeitig spielt das Artemis-Quartett im Kammermusiksaal, tags darauf das Armida Quartett im Konzerthaus. Im Weddinger Pianosalon Christophori gibt sich das Gémeaux-Quartett die Ehre. Und Ende April kommt es ganz dicke: Fünf Streichquartette nacheinander im Konzerthaus – ein Fest, das sich teilweise mit dem Brahms-Marathon des Mandelring-Quartetts im Radialsystem überschneidet. Noch was übersehen? Bestimmt.
Wenn das Streichquartett tot ist, ist es ganz schön untot. Zerreißen müsste der Konzertgänger sich können.