Enttaubend: Cherubinis „Médée“ an der Staatsoper Unter den Linden

Eine der traurigsten und berührendsten Geschichten der Beethoven-Hagiographie erzählt, wie der fast Taube angestrengt einer Spieldose mit der Ouvertüre von Cherubinis Medea lauschte. Das mag eine dieser Schindler-Stories sein, trotzdem ergreifend. Den Namen Luigi Cherubini kennt jeder, was von ihm gehört haben nur Fachpersonal, Freaks und Callas-Fans. Uns musikgeschichtlich Ertaubten erlaubt jetzt eine Neuproduktion der Staatsoper Unter den Linden, das Ohr dicht an die Spieldose zu halten. Und einen atemberaubenden Anti-Fidelio kennenzulernen, inszeniert von Andrea Breth, dirigiert von Daniel Barenboim, hochkarätig besetzt. Am Sonntag war Premiere, der Konzertgänger war in der Folgevorstellung.

Den berühmten italienischen Callas-Aufnahmen liegt eine Version zugrunde, die auf kurios verschlungenen Rezeptionswegen entstand, u.a. mit in Deutschland nachkomponierten Rezitativen. Durchaus sinnvoll also, auf die französische Originalversion mit dem Titel Médée zurückzugehen, die am 13. März 1797 in Paris uraufgeführt wurde. Zu einer Zeit, da Robespierre seit drei Jahren kopflos war, der erste Koalitionskrieg zu Ende und Napoleons Stern auf ging und der Sozialist Babeuf vor Gericht stand. Man kriegt das nicht ganz zusammen, wenn man drüber nachdenkt, obwohl ja Geschichte und Kunst hier in Sachen Blutrünstigkeit einander nicht nachstehen.

„Aufräumzeit, es ist soweit“, aus dem Zyklus: Medea als Kindergärtnerin

Kennt man eine der berühmten Callas-Aufnahmen aus den 1950er Jahren, geht man davon aus, dass die Sängerin der Titelpartie das einzig Wichtige sei und alles andere schnurzegal. Ganz so ist es dann doch nicht.

Dabei könnte die Médée der begeisternden bulgarischen Sopranistin Sonya Yoncheva diese Verantwortung durchaus wuppen. Bei der Premiere löste Yoncheva alles von überwiegender Zustimmung und hellster Begeisterung bis zum Vorwurf der Fehlbesetzung aus. Die Frage ist wohl, ob man einen stilistischen Maßstab anlegt oder ein unbefangenes Herz urteilen lässt. Denn klar sprengt Yonchevas Spätes-19.-Jahrhundert-Stimme den stilistischen Rahmen dieser Schwelle-zum-19.-Jahrhundert-Oper. Sie sprengt eigentlich das ganze Lindenopernhaus, aber wenn man sie hört und erlebt, kann man schon zum Urteil kommen, dass das die 800 Fantastilliarden (oder wie viel die Sanierung gekostet hat) schon wert ist. Alles hochexpressiv statt kleinteilig gestaltend. Aber allein Yonchevas Ingrat!-Rufe gegen den unwürdigen Waschlappen Jason sind wie Messerstiche.

Und welche Figur dürfte denn Stil, Rahmen und Haus einer Aufführung sprengen, wenn nicht die ungeheuerliche Medea?

Vor dem Bravo-Rufen Ohren ankleben! (Quelle: vladtime.ru)

Die Bravo-Bereitschaft des Publikums ist hoch, leider höher als die Sachkenntnis. Verzweifelt winkt Daniel Barenboim im ersten Akt ins Publikum, man möge Frau Yoncheva doch erst mal aussingen lassen, bevor man sie bejubelt. Ein unsagbar peinlicher Moment. Vielleicht sollte man demnächst auf den Übertiteln ein Applaus-Zeichen einblenden, um solchen enthusiasmierten Musikzerstörern das Handwerk zu legen?

So zentral die Médée ist, zumal im dritten Akt, gibt es doch stimmliches Leben um sie herum. Besondere Freude machen der kultivierte, geschmackssichere Tenor des klug gestaltenden Charles Castronovo als Jason. Und Marina Prudenskaya bringt das Kunststück fertig, dem Publikum in ihrer relativ kleinen Rolle als Dienerin Néris die vielleicht vollkommenste Leistung und den berührendsten Moment des Abends zu bescheren. Denn in ihrer von einem eindrucksvollen Fagottsolo eingeleiteten Arie im zweiten Akt schenkt sie uns die lieblichen Pianissimo-Wonnen, die Médée-Yonchevas Sache nicht sind. (Pech, dass ausgerechnet hier ein ruchloses Handy bimmelt.)

Medea bestraft einen Handybimmler. (Zeitgenössische Darstellung)

Elsa Dreisig gelingt es als Jasons neue Flamme Dircé, bevor Medea sie in giftigen Flammen aufgehen lässt, ihre Koloraturkunst zu Beginn der Oper in höchster Schönheit mit der Darstellung des Erstickens zu verbinden. Aus Iain Paterson als Papa Créon, der am Ende mitverbrennt, wird man sängerisch nicht ganz schlau. Der Chor klingt tadellos.

Daniel Barenboim sprengt indes mit der Staatskapelle die Erwartungen, und zwar im Guten. Denn da ist keine Spur von Wucht und Behäbigkeit, die man befürchten konnte, da der Romantiker Barenboim nicht als historisch aufführungsinformierter Oberzausel gilt. Das relativ kleine Orchester klingt dramatisch wendig. Dass bei Cherubini nicht nur andere Sänger, sondern auch das Orchester eine Rolle spielen, war dem kundigen Callas-Hörer nicht recht klar. Man staunt über Anspruch und Niveau der Orchesterpartie, die viel mehr ist als Begleitung. Einigen Beethoven meint man vorzuhören, schöne Mischklänge gibts jedenfalls mit viel Holz, dazu tolle Soli; nicht nur das erwähnte Fagottsolo, auch die Flöte im ersten Akt. Und zumal die drei Akt-Ouvertüren haben Gewicht. Man wundert sich, dass die nicht zumindest in Konzertprogrammen überdauert haben. Das packende Gewitter-Vorspiel zum dritten Akt wäre mal eine Alternative zu Egmont oder Hebriden.

Und dass ein Orchester unter Barenboim gelegentlich sehr leise Töne anbietet, die die Hauptdarstellerin nicht recht aufnehmen mag: Den Befund hat man auch nicht alle  Tage.

Es gibt auch eine Inszenierung. Sie wirkt, als hätte die Regisseurin Andrea Breth eine Wette abgeschlossen, jeden Trostlosigkeitsrekord zu sprengen. Andererseits ist das ein sympathischer Kontrast zu dem seltsamen Festival of Lights, bei dem gerade alle möglichen Hauswände angeleuchtet werden, was den Berliner scharenweise in die Innenstadt treibt. Wir sind Theater, wir hätten gern das Aschgrau.

Dass die öden Hallen mit den grauen Wänden und grauen Rolltoren ein „Zollfreilager“ von Steuerschummlern sein sollen und das Goldene Vlies als Raubkunst mit NS-Assoziationen zu verstehen sei, erschließt sich nur dem, der das Programmheft liest. Der Zweck der herumstehenden Holzkisten entpuppt sich dagegen im dritten Akt, als in ihnen Feuer ausbricht. Außerdem gibt es einen Lüftungskasten, teils geköpfte schwarze Pferde und große Schatten. Yoncheva-Médées nackte Schulter ist verdammt sexy; die nackte Schulter als Signal, dass diese Frau da krasser liebt und hasst als alle anderen, scheint dagegen so eine mittelprächtige Idee.

Der gewisse Breth-Sog deutet sich momentweise an, aber entfaltet sich nicht. Und wenn man nicht mehr weiter weiß / dreht die Bühne sich im Kreis.

Vielleicht wurden der Regisseurin auch vom theatergeistig desinteressierten musikalischen Personal ein paar Steine in den Weg gelegt. Die Fassung mit originalen, aber radikal gekürzten Dialogen (statt der nach Cherubinis Tod in guter Absicht aufoktroyierten Rezitative) befriedigt nicht. Die gesprochenen Rudimente sind nicht mehr als Verse erkennbar, was wohl Absicht ist. Aber das gesprochene Französisch einiger Sänger n’est pas le jaune de l’œuf. Und die Handlung des dritten Aktes, besonders Medeas Mord an Dircé und Créon, ist für Nichtmythologen einfach nicht nachvollziehbar.

Andererseits stört die Inszenierung nicht. Auch Plätze ohne Sichtbehinderung sind gute Hörplätze. Und diese Médée kennenzulernen, lohnt unbedingt. Gelegenheit gibts noch viermal vom 17. bis 28. Oktober.

Mehr über den Autor  /  Zum Anfang des Blogs

3 Gedanken zu „Enttaubend: Cherubinis „Médée“ an der Staatsoper Unter den Linden

  1. Ich fand die Inszenierung langweilig und frage mich, ob Breth das Libretto überhaupt gelesen hat! Aber vielleicht könnte diese Inszenierung für weitere andere Opern wieder verwendet werden… Nach einem ganz großen Abend in der deutschen Oper (Tosca) hat mich der Klang der Staatskapelle sehr enttäuscht. Auch vom Dirigent hätte ich mehr erwartet… Zwei große Sänger haben brilliert: Yoncheva und Prudenskaya. Leider fehlte bei den anderen Sängern viel, um diesen Abend magisch zu gestalten. Fazit: Viele hochkarätige Mitwirkende für ein enttäuschendes Ergebnis.

    • Langweilig fand ich die Inszenierung auch, aber dass ausgerechnet Frau Breth sich nicht mit dem Libretto beschäftigt hat, glaube ich nicht. M.E. lag das Problem eher darin, den (ja tatsächlich seinerseits heutzutage problematischen) hohen Alexandriner-Ton der Sprechpassagen derart runterzukühlen.
      Aber Sie haben Recht, die Tiefgaragen-Versandhaus-Bühne könnte man wirklich auch für andere Opern verwenden; eigentlich alle, die in Palästen spielen.
      Von Herrn Barenboim war ich eher positiv überrascht, da es stilistisch ja nicht gerade seine Domäne ist und man über seinen Gluck vor einigen Jahren eher Ungünstiges hörte.

  2. Ich verzichte und werde mir lieber am Samstag noch mal, und leider zum letzten Mal, Fausts Verdammnis zu Gemüte führen.
    War gestern, trotz zweier Umbesetzungen, Faust und Dirigat, mit zwei völlig unbekannten Künstlern wieder ein bezwingender Abend, den ich mit ein bisschen mehr Proben dann, noch letzmalig anhören werde

Schreibe einen Kommentar