Ja is denn heut schon Weihnachten – feinabgestimmte Programmplanung, wo gibts denn sowas? In Berlin sonst kaum, hier lief ja schon mal der Don Giovanni in der Staatsoper und gleichzeitig 600 Meter weiter in der Komischen Oper. Nun aber kann man an einem einzigen Wochenende überschneidungslos zwei wildwuchernde Heilands-Oratorien erleben: am Samstagnachmittag und Sonntagabend Händels Messiah in der Philharmonie, dazwischen am Samstagabend John Adams‘ El Niño im Konzerthaus. Ersteres mit dem Deutschen Symphonie-Orchester und dem RIAS Kammerchor unter Robin Ticciati (mehr dazu unten); letzteres mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester und dem Rundfunkchor unter Vladimir Jurowski.
Aber wie heilandig ist das Kind in dem „Nativity Oratorio“ El Niño überhaupt? Der Amerikaner John Adams ist spätestens seit seiner Residenzsaison bei den Berliner Philharmonikern hierzustadt ein lieber Bekannter – auch wenn seine jüngeren Werke beim Konzertgänger teils zwiespältige Eindrücke hinterließen, etwa das exotistisch-feministische Scheherazade-Violinkonzert. Das 1999 entstandene Oratorium El Niño ist nun ein ebenso höchstambitioniertes Unterfangen wie The Gospel According to the Other Mary (2012), scheint aber stringenter, konzentrierter. Dabei ist El Niño ähnlich überladen, ja vollgestopft mit Ideen, Assoziationen, Quellen: von apokryphen Evangelien über Barockes bis zu zeitgenössischer mexikanischer Lyrik. Peter Sellars hat bei der Textkomposition mitgestopft, das merkt man.
Und dann ist da noch der Bezug zur drohenden Klimakatastrophe. El Niño nennen peruanische Fischer die regelmäßig in der Vorweihnachtszeit hereinbrechenden, immer gefährlicher werdenden tropischen Wirbelstürme. Unter der Last dieses Bedeutungsstockwerks würde Adams‘ Werk doch zusammenzubrechen drohen (sie passt freilich zum RSB-Saisonthema Der Mensch und sein Lebensraum).
Und doch wirkt in El Niño der rote Faden der good old Weihnachtsgeschichte so unzerreißbar, dass er das vielseitige Ganze zusammenhält – gemeinsam mit dem unerschütterlichen, fast naiven Glauben an die Kraft authentischer, nicht-eskapistischer Poesie. Gedichte von Frauen sind das vorwiegend (aber nicht nur), von Hildegard von Bingen über die spanisch-indianische Nonne Juana Inés de la Cruz (1651-1695), die Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral und die feministische Autorin Rosario Castellanos. So rückt gegenüber dem Kind die Mutterschaft ins Zentrum des Blicks, etwa in Castellanos‘ beeindruckendem Gedicht Se habla de Gabriel, das von der Last der Schwangerschaft spricht, dem Kind als einem störenden Gast an einem Platz, der mein Platz war (ocupando un lugar que era mi lugar). Und in Castellanos‘ anklagendem Gedicht Memorial de Tlatelolco über ein Polizei-Massaker an Studenten 1968 ist, bei hoher lyrischer Komplexität, der Schmerz der Mütter der Ermordeten mitspürbar; nicht zuletzt weil es bei Adams mit Matthäus‘ Bericht vom bethlehemitischen Kindermord gekoppelt wird (And he slew all the children).
Große Umstände also zu erklären, worum’s überhaupt geht. Adams‘ Musik aber ist nicht umständlich, sondern kommt direkt zur Sache – selbst wenn sie sich zwei- oder dreifach spaltet: Im erwähnten Schwangerschaftsgedicht singt das lyrische Ich durch zwei Stimmen, Sopran und Mezzosopran stehen hier am Rand der Bühne zwischen Klavier und Keyboard-Sampler (Mark Grey). In biblischen Abschnitten ist der Erzengel dreistimmig zu hören, von einem teils putzigen, teils faszinierenden Countertenor-Trio. In dem Gedicht The Three Kings von Rubén Dario (merkwürdig, dass Adams hier die englische Übersetzung benutzt) sind die drei nacheinander einzeln zu hören, da macht der Balthasar von Daniel Bubeck besonderen Eindruck.
Der berühmt-berüchtigte Minimalismus ist nur ein Element unter vielen, die alle dem poetischen Ausdrucks-Maximalismus dienen. Je länger man zuhört, desto vertrackter. Wunderbar aber das idyllische Gleichmaß-Hüpfen in The babe leaped in her womb (aus Lukas). Darin beantwortet sich auch die Frage, ob Adams nicht allzu schnell durch seine Textmassen hetzt: Ist das nicht zu viel Information, zu wenig Reflexion? Wo bleibt die Ausdeutung von Wörtern und Wortfarben? Hier aber hören wir die faszinierend sich steigernden Wiederholungen von leaped in her womb – und die Vertonung von Castellanos‘ Schwangerschaftsgedicht endet auf der Wiederholung des Schlussworts presencia wie auf einem mystischen stehenden Jetzt.
Manchmal aber hinterlässt der Umgang mit dem Text auch Zweifel: etwa wenn Hildegards O quam preciosa zu einer Art Hintergrundsummen zu einem aufregenden Gedicht von Gabriela Mistral wird, in dem der Weihnachtsstern über den verbrennenden Körper eines kleinen Mädchens die ganze Erde in Brand setzt. Ist diese wirkungsvolle Kopplung nicht zu viel und, was den Umgang mit Hildegards Text angeht, letztlich geheimniswidrig?
Gelegentlich meint man zu spüren, dass das Rundfunk-Sinfonieorchester diese Musik nicht mit der Muttermilch aufgesogen hat. Aber es ist von Vladimir Jurowski bestens vorbereitet, zählt aufs Tapferste die verhexten Akzente ab und dient bewundernswert den Sängern.
El Niño scheint dabei eher Solisten-Oratorium als Chorwerk. Die Mezzosopranistin Measha Brueggergosman musste kurzfristig ersetzt werden – und zwar, was den Aufwand der ganzen Unternehmung zeigt, durch gleich zwei Sängerinnen, die die Partien in Rekordzeit einstudierten. Verena Usemann und Maria Gortsevskaya schaffen das imposant, auch wenn leider ein wohl besonders komplexer Abschnitt gestrichen werden muss (ausgerechnet La anunciación). Dem warmen, ja mütterlichen Sopran von Rosemary Joshua folgt man ebenso gern wie dem erwähnten Counter-Triple. Und wenn Davóne Tines singt And I will shake all nations, dann ist sein markanter Bariton tatsächlich shaken not stirred. Man zögert in Zeiten des grassierenden Rassismus ja, eine so herrlich glühende Stimme „black“ zu nennen; und denkt doch daran, was uns durch die viel zu geringe Präsenz „schwarzer“ Stimmen in der Klassik entgeht.
Der Rundfunkchor löst seine diffizilen Aufgaben mit Bravour. Bei fill this house with glory machts zum ersten Mal BANG! In When Herod heard kommt einem das Oxymoron eines Unisono-Turba-Chors in den Sinn. Betörend die Wirkung, wenn der Chor in And when they were departed a cappella bzw nur von leisen Kontrabässen begleitet zu hören ist. Im allerletzten Abschnitt dann geht der Gesang auf Kinderstimmen über: Der Bariton singt nicht mehr, sondern spricht von einem apokryphen Palmenwunder des Jesuskinds, während der Kinderchor des Händel-Gymnasiums Castellanos‘ Una palmera singt, am Ende nur mehr von einer einzelnen Gitarre begleitet – kitschig vielleicht, aber ein Finale von wunderbarer Wirkung, voller Zukunft, voller Hoffnung und dabei tief verletzlich. – Zu „El Niño“
Händels „Messiah“ mit dem DSO
Nicht das Schlechteste an der RSB-Aufführung von John Adams‘ El Niño: Es gibt keine Inszenierung. Das zeigt einem beeindruckend die „szenische Einrichtung“ von Georg Friedrich Händels Messiah, den Robin Ticciati mit dem Deutschen Symphonie-Orchester und dem RIAS Kammerchor in der Philharmonie aufführt.
Scheint Frederic Wake-Walkers Regie anfangs bloß nichtssagend, wird man schnell eines Schlimmeren belehrt. Man mag noch hinnehmen, dass die läppischen Tanz-Einlagen (ohne Namen eines Choreografen im Programmheft!) die Bewegung der Musik großteils banal eins zu eins abbilden; dass 24 auf der Bühne verteilte senkrechte Leuchtstoffröhren die Augen belästigen und ermüden; ja sogar, dass das Orchester am hinteren Ende der Bühne sitzt, mit dem Rücken zum Publikum, was den Effekt hat, dass der nun von vorn zu sehende Dirigent ins Blickzentrum des Publikums gerät: schlimm nicht etwa, weil Ticciati so unansehnlich dirigieren würde (im Gegenteil), sondern weil es den Dirigenten optisch zum Messias macht. Selbst wenn man wegen der Leuchtstoffröhren ja nicht lang hinschauen kann; erst im dritten Teil sind die verdammten Dinger ausgeknipst: Erlösung neu definiert.
Das Verheerendste aber ist die zentrale Regie-Idee: Eine dunkelhäutige Messias-Verkörperung (in Gestalt des so bewunderns- wie bedauernswerten Tänzers Ahmed Soura) auf die Bühne zu bringen, ist sicher gutgemeint. Aber vor einem fast komplett weißen Publikum einen muskulösen Schwarzen erst im hochgeschlitzten Burnus herumhoppeln, dann fast nackt daliegen zu lassen, kann man auch rassistisch finden. Wollüstern betatschen die weißen Sänger den nackten schwarzen Leib; den Zweck der überall verstreuten Riesentaschentücher malt man sich lieber nicht aus. Im dritten und letzten Teil versucht sich die Regie dann in einer antirassistischen Pointe, die das Gesehene rückwirkend überwölben soll – und alles nur noch schlimmer macht: indem sie die ganze Messiah-Chose für verlogen, lächerlich, bigott erklärt. Der schwarze Messias-Hampelmann ist da nämlich zum Lampedusa-Flüchtling geworden, der nicht reindarf. Aber ist es nicht viel bigotter, das Publikum sich zwei Stunden lang am Anblick des Nackten aufgeilen zu lassen und dann den moralischen Stinkefinger zu schwingen, seht ihr, schlimm wars?
Dann lieber ehrliche Heilands-Pornographie.
Traurig ist das auch deshalb, weils musikalisch gut ist. Das DSO, historisch informierelnd auf Darmsaiten usw, klingt auch von hinten besser als die meisten Orchester von vorn. Und kommt Ticciati das Schärfen auf dem abgezirkelten Raum von Arien und Chornummern nicht mehr entgegen als die großsinfonischen Bögen der Spätromantik?
Auch die Koordination mit den Sängern funktioniert viel besser, als man befürchtet, wenn man die Beteiligten Rücken zu Rücken agieren sieht. Die Solisten machen ihre Sache großteils gut, auch wenn Magdalena Koženás Hibbel-Vibrato in der für sie teils zu tief liegenden Partie einen nervös machen kann (sie wird aber auch von der fatalen Regie wie ein hysterischer Flummi herumgeworfen). Der kraftvolle Bass von Florian Boesch und der strahlende Sopran von Louise Alder machen besondere Freude. Alder gelingt How beautiful are the feet berührend, obwohl der Messias die nackten Füßen in der Luft herumwackeln lassen muss. Countertenor Tim Mead und Tenor Allan Clayton überzeugen nicht nur gemeinsam im tiefenentspannten O death, where is thou sting.
Das, im positiven Sinn, herausragende Ereignis der Aufführung aber ist der RIAS Kammerchor: hell (ohne das hörende Auge zu schmerzen wie die Leuchtstäbe), überaus klar, sensationell beweglich auch in den Farben- und Schattenverschiebungen. Und die Dramaturgie der Stimmführungen profitiert sogar von der riskanten Aufstellung in zwei Gruppen einander gegenüber, zumindest wenn man etwas entfernt sitzt.
1742 wurde Händels Messiah erstmals aufgeführt, vor 276 Jahren. Ob man John Adams‘ El Niño anno 2275 noch spielen wird? Notiz an den Ururururururenkel: diese Frage bitte im Kommentarbereich beantworten. – Zum „Messiah“
Vielen Dank für die Rezension zu Händels Messiah mit dem DSO. Sie spricht mir in allen Punkten aus dem Herzen.
Ich bin weder politically correct, noch ein naiver Gutmensch. Aber die Inszenierung mit tanzendem Afrikaner war dekadent, obszön, offen rassistisch. Gott sei Dank habe ich im ganzen Sall kein schwarzes Gesicht gesehen. Ich hätte mich zu Tode geschämt. Einen weißen Ballett-Tänzer hätte ich noch toleriert, oder das Ganze abgemildert durch einen zusätzlichen schwarzen Solisten. So hat man aber einem Mohren eine Zikusarena aufgebaut. Warum nicht gleich mit Baströckchen.
Demgegenüber fantastische Musik mit erstklassischem Orchester, exzellenten Solisten und einem großartigen Chor, dem der Dirigent am Ende übrigens keine gezielte Würdigung zukommen ließ.
Im Schlußapplaus kann ich nicht differenzieren und meine Empörung mit Buh-Rufen verdeutlichen. Deshalb ist mir Ihre Rezension so wichtig
Das DSO sollte Stellung nehmen und sich von dieser Inszenierung distansieren.
Trotz des großen Jubels standen Sie und ich mit der Empörung nicht allein, wie ich einigen Gesprächen entnommen habe.