Bohnenbreiig: Alban Bergs „Wozzeck“ an der Deutschen Oper

Hat Er schon seine Bohnen gegessen, Wozzeck?

Ach Gott, was wurde in wenigen Jahren aus dem hehren Wörtchen ewig! Ein Beben machendes neunmaliges Schlussmantra war dieses ewig in Mahlers Lied von der Erde. Im Wozzeck aber ist es nur noch ein Hohn, die hohe Tenorquetschvokabel des Hauptmanns im ersten Akt. Ein Weltkrieg und eine musikalische Revolution lagen dazwischen. Alban Bergs Wozzeck, 1921 fertiggestellt und 1925 uraufgeführt, gibts nun in einer neuen Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin. Musikalisch scheints eine recht runde Sache, fein geschält, inszenatorisch eher ein bunter Bohnenbrei.

Dabei hätte der norwegische Regisseur Ole Anders Tandberg alle Voraussetzungen, wo er doch mit 19 selbst als Büchners Woyzeck auf der Bühne stand: Ich erinnere mich jedenfalls noch gut, wie ich zu nächtlicher Stunde in einer alten Scheune umhergerannt bin, pfundweise Bohnen in mich hineingeschüttet und aus vollem Hals herumgebrüllt habe, um Woyzeck so näher zu kommen. Nach der Lady Macbeth von Mzensk (Ehefrau killt Ehemann) und Carmen (Verliebter killt Geliebte) ist Wozzeck Tandbergs dritte Regiearbeit an der Deutschen Oper, Vater killt Mutter. Eigenartige Vorliebe. What’s next? Otello?

Hätte Wozzeck einen Migrationshintergrund, würde man von „Ehrenmord“ sprechen, bei Autochthonen nennen wirs „Familiendrama“. (Handlung und kurze Einführung)

Boston wäre eine Alternative zu Oslo gewesen.

Wozzeck ist bei Tandberg hoch-autochthon. Er steckt mittendrin und doch außen vor im norwegischen Nationalfeiertags-Trubel, im blauen Anzug, umgeben von allgemeinem Fähnchenschwenken und nationalem Komasaufen. Das alles in einer tristen Nationalspelunke wie von einem norwegischen Edward Hopper. Zwischen Bergs 15 Wozzeck-Bildern gibts hier immer ein Männergesicht auf einem Vorhang, das einem bald wie ein Bildschirmschoner vorkommt. (Es ist das Gesicht des Hauptdarstellers, aber das spielt keine Rolle.) Vor der Oper hat es die Augen geschlossen, mit ihrem Beginn öffnet es sie, also genau umgekehrt wie der gewöhnliche Operngänger. Nachdem Marie sich in legitimer sexueller Freiheit (Tandberg) proaktiv auf den Tambourmajor gestürzt und ihm die Hose aufgerissen hat, schließt das Vorhanggesicht genervt wieder die Augen. Ach nein, es ist gar nicht genervt, begreifen wir dann, die Augen gehen bloß zwischen den einzelnen Akten der Oper wieder zu. Wie gesagt, umgekehrt wie… Die Zeit wird einem lang bei der Kurzweil.

Schon Pythagoras warnte vor Bohnen.

Gegen all diese Ideen wäre gar nichts zu sagen, auch gegen Maries sexuelle Emanzipation nicht und gegen Norwegen schon mal gar nichts. Was aber stört: dass Tandberg so wenig zu Armut und Anteilnahme einfällt. In Ingo Metzmachers Opernbuch Vorhang auf! kann man lesen, wie sich der Regisseur Peter Konwitschny Ende des 20. Jahrhunderts einmal die halbe Nacht bei dem Dirigenten einnistete, zerquält von den Wozzeck-Fragen:

Wie kann ich Armut auf der Bühne zeigen, in Zeiten des Reichtums und der Verschwendung? Wie kann ich wahrhaftige Anteilnahme erzeugen, in Zeiten der Reizüberflutung? Wie kann ich das Leid eines Menschen glaubhaft machen, in Zeiten der Lüge und der Übertreibung? Es scheint ihm eine unlösbare Aufgabe zu sein.

Tandberg aber versuchts gar nicht erst. Für ihn ist die Hauptfigur so ein zeitgemäßer Jeder-von-uns, er nennt Büchners Woyzeck ein Stück über die existenzielle Einsamkeit, die jeder von uns irgendwo auf dem Grunde seiner Seele fühlt. Berg aber schrieb 1918 an Webern: Es ist nicht nur das Schicksal dieses von aller Welt ausgenützten und gequälten armen Menschen, was mir so nahe geht, sondern auch der unerhörte Stimmungsgehalt der einzelnen Scenen.

Man muss den Wozzeck darum nicht als Wir-arme-Leut-Sozialschmonzette zeigen. Aber Bergs Musik spendet uns doch nicht Trost durch Mitleid mit den Menschen im allgemeinen, wie Tandberg meint, sondern sie hat Mitleid mit zwei individuellen, besonders geschundenen, in den Untergang getriebenen Menschen, die sich eigentlich lieben sollten und könnten und es ja auch tun, sie haben ja ein Kind miteinander (das hier seltsamerweise nicht eins, sondern sieben ist; damit es nicht so süß wirkt?).

Die Sänger reißen zum Glück einiges raus aus der Jeder-von-uns-Misere. Eine Oper dauert 99 Minuten, entscheidend ist im Hals. Der dänische Bass-Bariton Johan Reuter ist, obwohl die Inszenierung es ihm schwer macht, ein beeindruckender Wozzeck, geplagt und verloren. Seine Stimme aber ist kraftvoll und sein Gesang genau. Seine Statur hat nichts von Wozzecks schwächlicher Konstitution; aber das wäre auf der Bühne ein geringeres Problem als Anzug und Krawatte, die die Regie ihm aufzwingt. Elena Zhidkova hat als Marie eine schwerere Regie-Bürde zu tragen, wenn sie in so einem Fahrstuhl-zum-Schafott-Trenchcoat die starke Frau geben muss. Was ist das für ein Regie-Missverständnis, dass eine Frau auf der Bühne immer stark wirken muss, um Respekt zu verdienen? Zhidkovas schöner Mezzosopran jedenfalls hat Fülle und Glut und ist auch in der Höhe imposant kontrolliert. Aber wo ist Maries Schwachheit, die Liebe und Respekt verdient?

Reuter und Zhidkova retten mit ihrer sängerischen und darstellerischen Präsenz die an sich unendlich rührenden Szenen, die die Regie in kalter Ungefährheit belässt: Wenn der arme Wozzeck seinen schlafenden armen Sohn bemitleidet, nichts als Arbeit unter der Sonne, sogar Schweiß im Schlaf. Oder Maries Bibel-Szene zu Beginn des dritten Akts.

Burkhard Ulrich als immerhin ansatzweise komischer Hauptmann und Seth Carico als mitteldämonischer Doktor zeigen ihre sängerische Sicherheit nicht nur in dem Fugen-Trio mit Reuter-Wozzeck im zweiten Akt. Dass sie, wie auch Thomas Blondelles Tambourmajor, insgesamt etwas blass bleiben, dürfte nicht nur mit Diktionsfragen zu tun haben, sondern mehr mit der halbgaren Regie. Unter den kleineren Rollen ragt präzise  und erstaunlich reif der Stipendiat Philipp Jekal als zweiter Handwerksbursch heraus.

Sir Donald matscht nicht, Sir Donald schält.

Der von Jeremy Bines einstudierte Chor klingt stellenweise etwas wacklig, was an der Vereinzelung an Einpersonen-Tischen in Tandbergs norwegischer Nationalspelunke liegen mag. Der Jäger aus der Pfalz müsste doch etwas stabiler hinzubekommen sein? Im Orchester unter Donald Runnicles aber wackelt nichts. Wie akkurat hier die H’s und N’s aus Bergs Partitur (für Haupt- und Nebenstimme) umgesetzt werden, vermag der Konzertgänger nicht zu beurteilen, aber der Klangeindruck ist mächtig kohärent, keine Spur von Bohnenbrei. Die Zwischenspiele haben beängstigende Wucht, beglückenden Glanz und detailreiche Feinheit. Mit der Wärme hapert’s gelegentlich, der Emotionalität. Aber orchester- und großteils auch sängerseitig ist das ein lohnender Wozzeck.

Weitere Aufführungen vom 10. Oktober bis Mitte November.

Weitere Kritiken: Schlatz mit VorbehaltenInforadio, Manuel Brug genervt, Tagesspiegel, Onlinemerker angetan, nmz.

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3 Gedanken zu „Bohnenbreiig: Alban Bergs „Wozzeck“ an der Deutschen Oper

  1. Ja, das Orchester der Deutschen Oper fand ich sehr schön. Selten hat Runnicles mir besser gefallen. Die Deutsche Oper bzw. Dietmar Schwarz scheinen einen Besen an Tandberg gefressen zu haben. Den Wozzeck fand ich aber doch interessanter als die Lady Macbeth.
    Mit meiner Offiziersmesse lag ich falsch, das war also norwegischer Nationalfeiertag. Ich könnte mir vorstellen, in die letzte Vorstellung nochmal reinzugehen.

    • Mir ging es umgekehrt, den Fischen in Lady Macbeth konnte ich noch was abgewinnen, obwohl Pilze ja passender wären. Carmen hab ich ausgelassen. Was die Auftragserteilung an Regisseure angeht, stellt sich schon die Frage, ob da die abgelieferte Arbeit mal evaluiert wird.

  2. Gut, mit dieser Kritik kann ich leben :-))
    Obwohl ich durch die Bank alle wirklich gut fand. Man müsste vielleicht wirklich mal wieder die 3.oder4. Vorstellung besuchen, schätze mal, das da dann alle den Ansprüchen genügen würden. Sind doch eigentlich alle nicht sehr ehrfahren mit solch Partien.
    Mir hat auch diese Inszenierung mit kleinen Einschränkungen gefallen. War allerding auch mein allererster Wozzeck

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