Prophetenmütterlich: Meyerbeers „Le Prophète“ an der Deutschen Oper

Sind die Täufer nicht slightly aktueller als der olle Luther? Nicht die Täufer im allgemeinen, sondern die von Münster, wie die Nachwelt (oder die Siegergeschichtsschreibung) sie darstellte: eschatologisch, apokalyptisch, menschheitserlösend, durchgeknallt, blutrünstig. Diese Art von Wiedertäufern gibts ja bis heute, sie führen Endzeitkämpfe aller Art. Sie haben das 20. Jahrhundert versaut, heute schneiden sie Ungläubigen die Köpfe ab oder wollen hierzulande unsere Kultur von Fremdkörpern reinigen.

Kein Wunder also, dass Giacomo Meyerbeers Le Prophète (uraufgeführt 1849, 14 Monate nach der Verfassung des Kommunistischen Manifests) derart knackt. Wenn die Aufführung so gut ist wie an der Deutschen Oper Berlin.

Dass es so knackt, dahinter stecken vor allem: Zuallererst logischerweise Giacomo Meyerbeer, geboren als Jakob Liebmann Meyer Beer 1791 in einer Kutsche im heutigen Rüdersdorf bei Berlin. Und zweitens der spanisch-italienische Dirigent Enrique Mazzola, der das Riesenprachtschiff Le Prophète so schwungvoll und, bitte das Bild zu verzeihen, leichtfüßig wiederbelebt. Vulgo wiedertauft. Wenn der Meyerbeer-Einsteiger sich unter Grand Opéra eine breite, pompöse Angelegenheit vorgestellt hat, wird er hier eines Schlankeren, trotzdem überaus Sinnlichen belehrt. Das Riesenorchester rumsbumst ja nur selten im Tutti. Wenn, dann vor allem in den Ballettmusiken, und auch da wohlkohärent. Da zeigt sich eine Farbigkeit der Instrumentation, die fast an Berlioz erinnert. Und eminenter Schwung sowieso, Mazzola nimmt flotte, aber stets geschmeidige Tempi.

Die meiste Zeit aber hat das Orchester der Deutschen Oper sich en detail zu zeigen, in glänzenden Facetten: Abwechslungsreich treten die einzelnen Farben der Klarinette (mit Echo) hervor, unter den weiteren Holzbläsern immer wieder und sehr variantenreich die Fagotte. Arpeggierende Harfen gibts, und das Blech grundiert den Choral der drei herumgeisternden Wiedertäufer und dräut zu ihren Verführungskünsten gegenüber dem armen Jean.

Meyerbeer scheint ein Komponist der entschieden nicht-entwickelnden Variation zu sein, ein großer Melodiker und Bühnenpraktiker. Sog entsteht vor allem durch blühende Melodik und dramatischen Instinkt, nicht durch überordnende Strukturmaßnahmen und Kryptosymphonik. Hervorstechendes Merkmal ist eine gewisse Italianità, das Belcantohafte dieser Grand Opéra. Dass die Stimmen so wunderbar durchkommen, dazu muss der Dirigent wohl nichts revidieren oder dimmen, sondern einfach Meyerbeers Anweisungen folgen.

Und die Stimmen, die da durchkommen, sind ein Traum! Der amerikanische Tenor Gregory Kunde wirkt aufs erste Hören fast unspektakulär. Und am Anfang etwas nervös – aber das ist schön: Da spürt man, dass da ein Mensch steht. Zittert. Wankt. Und als wahren Menschen charakterisiert Kunde seine undurchsichtige, vielfach gebrochene Hauptfigur Jean de Leyde. Ein Jedermann, der in einen Albtraum gerät, zugleich ein revanchelüsterner Kleinbürger, der sich von diabolischen Hasardeuren zum Prophetenkönig machen lässt. Zum Herzerbarmen, wenn er schließlich stockend singt: Je suis … le fils … de Dieu! Dieser arme Hallodri geht eigentlich nur auf einen Rachefeldzug und glaubt das am Ende, einen Moment lang, wirklich. Erschütternd. Le prophète, c’est moi.

Eine gewisse Italianità liegt auch in Jeans maßloser Mutterliebe. Für seine Maman gibt er gleich am Anfang die Geliebte hin, eine interessante Variante des ewigen Tenortrotteltums der Operngeschichte. Bei dieser Mutter allerdings verständlich!  Meyerbeer rüstete die Rolle kräftig auf, weil er mit Pauline Viardot (Schwester der Malibran) einen sensationellen Mezzosopran hatte. Aber Clémentine Margaine ist auch nicht ohne: betörender Wohlklang, überwältigende Fülle vor allem in den letzten beiden Akten. Wenn in der Blitz-Arie ihre Stimme am Opernhimmel wetterleuchtet, möchte man die Oper in La Mère du Prophète umtaufen.

Ein Höhepunkt ist Margaines Zusammentreffen im 4. Akt mit Elena Tsallagova als Berthe, Jeans Verlobte. Schon zu Beginn der Oper ist dieser Sopran von einer solchen Anmut und délicatesse, dass man die Raubwünsche des bösen Grafen Oberthal (der schon qua Stimmmaterial dämonische Seth „Diabolo-Röhre“ Carico) sofort versteht. Wenn auch selbstverständlich nicht gutheißt!

Als böses Geistertripel latschen drei Wiedertäufer andauernd durchs Geschehen, der tückisch verführerische, kurios Jan Böhmermann ähnelnde Tenor Andrew Dickinson zwischen den tiefen Stimmen des beeindruckenden Derek Welton und Noel Bouleys. Als ständiger Begleiter ist ihr komisch-gruseliger Nervchoral Ad nos, ad salutarem undam dabei, der in seinem 6/4-Takt klingt wie Es kommt ein Totenschiff geladen …

Der von Jeremy Bines einstudierte Chor der Deutschen Oper zeigt sich, wie das Orchester, von seiner besten und willigsten Seite, wenn er zarte Töne abrupt in heftige Gewalt-Eruptionen umkippen lässt.

Und offenbar ist er auch gut und kundig aufgestellt und geführt von Olivier Pys Regie und Choreografie. Die Inszenierung versucht sich nicht an einer Rekonstruktion der Grand Opéra durch Ausstattungs-Orgiastik, sondern setzt auf eindringliche Bilder, starke Gedanken, starke Gesten. Gesten wie das mit geballter Faust geschlagene Kreuz; etwas plakativ dann das mit Geldscheinen geschlagene Kreuz.

Der Grundgedanke der Inszenierung ist Rauch, aus dem Engel entstehen: das menschliche Bedürfnis nach Trost und die Entstehung von religiösem Extremismus aus sozialem Elend. Das Bühnenbild ist halb Banlieu, halb Bergarbeitersiedlung, in der die Aufwühler in ihren Finstermänteln an Zolas Germinal erinnern. Von Anfang bis Ende steht der Grabstein des Jean de Leyde (1509-1536) am vorderen Bühnenrand. Als der Dirigent im Schlussapplaus der Souffleuse dankt, siehts aus, als schüttelte er dem seit 481 Jahren toten Propheten die Hand.

Unergründlich bleiben dem Konzertgänger die leuchtenden Plakate, links ein Waschbrettbauch über roter Badehose, rechts das rotierende Weltall. Darum nur der praktische Tipp: Wer den Sixpack-Apollo anschauen will, muss sich nach rechts setzen, wer lieber ins Universum blickt, nach links. Die Leinwand mit dem sich räkelnden Bikinischneckchen erscheint später mittig. Irgendwie sind wir alle Sklaven der Werbeästhetik, oder irgendsowas. Betonung auf irgend.

Verstörend, und zwar in keinem guten Sinn, ist die Tendenz der Inszenierung zur umstandslosen Ästhetisierung von Gewalt. Schön, dass die Ballettmusiken so ausführlich drin sind. Aber das durchchoreografierte Foltern und Vergewaltigen mit austrainierten halbnackten Schönheiten wirkt banal und ist auf eine nicht produktive Weise unerträglich. What next? Tanz den Holocaust mit knackigen SS-Boys und supersexy Jüdinnen und Juden?

Fein hingegen der Beginn dieser Tanz-Einheit mit sich drehenden Verfallsfassaden, einem brennenden Auto, einer einsam tanzenden Engelsfrau. Das reißt Assoziationen auf ohne oberflächliche Schock-Effekte. Auch die spätere Einlage hat was, als sich schwarzverhüllte Jungfern mit dem Prophetenbild in den Orgasmus tanzen. Oder der Tanz der geheilten „Krüppel“.

Doch alles, alles wird überragt von dieser großen Bühnen-Erfahrung, dem Meyerbeer-Komplex. Beeindruckender noch als 2016 in den Hugenotten und 2015 in Vasco da Gama ist die unfassbare Steigerung des zuvor schon schnuffig-schnurrenden Geschehens in den beiden Schlussakten. Eine Steigerung in jeder Hinsicht: was Orchestrierung, Klangfantasie, dramatische Verdichtung, emotionalen Grenzgang angeht. An manchem Opernabend können Minuten zu Stunden werden, hier vergehen die Stunden im Fluge.

Sechs Vorstellungen gibts noch, bis Anfang Januar. A must go, dünkt uns.

Nachtrag: Beim zweiten Besuch (mit etwas anderer Besetzung) ist der Eindruck von Pys unausgegorener Inszenierung noch erheblich schwächer als beim ersten Mal, allzu viel stagniert und die krasse und doch wieder nur halbherzige Gewaltpornografie wirkt leichtfertig und undurchdacht. Der musikalische Eindruck ist und bleibt überwältigend.

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6 Gedanken zu „Prophetenmütterlich: Meyerbeers „Le Prophète“ an der Deutschen Oper

  1. im Übrigen hier eine Deutung der Plakate… vom BR die Kritik
    Wenn erst einmal die letzte aufreizende Unterwäsche-Reklame von den Plakatwänden verschwunden ist, wenn keine Bikini-Schönheit mehr großflächig von einer Hauswand lächeln darf, dann haben die Fanatiker gesiegt, von da an ist es anscheinend nur noch ein kleiner Schritt bis zur Herrschaft des Terrors. So ähnlich stellt es sich wohl der französische Regisseur Olivier Py vor. Außenwerbung ist in seiner umstrittenen Inszenierung von Giacomo Meyerbeers „Propheten“ an der Deutschen Oper Berlin jedenfalls ein wichtiges Sinnbild für den Zustand der Gesellschaft: Anfangs räkeln sich auf den Werbeflächen im Bühnenbild freizügige Models, dann werden sie von farbenfrohen Stadtansichten Jerusalems überdeckt, am Ende sind dort Weltraumbilder von fernen Galaxien zu sehen – und ein ausbrechender Vulkan.

  2. Danke, danke, danke, endlich eine Kritik, die den Namen verdient und mit meiner Meinung übereinstimmt. Was ich da heute schon wieder für einen Quatsch gehört, RBB, und gelesen habe, der Opernfreund, verdarb mir meine gute Laune.
    Die Plakate störten mich auch, weiss nicht, was die bedeuten sollten, dann dieser blöde Engel und im Schlussbild bei der großen Fidesarie, die beiden halbnackten Kerle.

    • Den Engel fand ich schon interessant und des Nachdenkens wert. Ja, die Nebenszene bei der Fidesarie war zu ablenkend – das einzige Mal, das die Inszenierung die Musik wirklich gestört hat.
      „endlich eine Kritik, die den Namen verdient und mit meiner Meinung übereinstimmt“ ist eine lustige Formulierung, aber freut mich 😉

      • wieso lustig??
        Dann lesen Sie mal, die „Kollegin“, die von Langerweile schrieb.
        Oder den vom deutschlankfunk kultur, der von niedlicher Inszenierung sprach, meinen Lieblingskritiker vom RBB nicht zu vergessen, was der z.B. zu Fr. Tsallagova von sich gab…
        Ja vielleicht sollte ich mit dem Engel noch mal nachdenken, erschliesst sich mir aber nicht, weil ich es zu überzogen fand

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