Musiker sind wie Politiker, am aufschlussreichsten sind ihre Nebentätigkeiten. Mit dem Unterschied, dass es nur zu begrüßen ist, wenn Prominente abseits der großen Bühnen Lobbyarbeit für Kammermusik und Neutönerei verrichten. Vladimir Jurowski, künftiger Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, ist ein Wiederholungstäter: Zwei Tage nach seinem Auftritt im Großen Saal des Konzerthauses bespielt er (wie schon im Januar) zwei Etagen höher mit dem kompetenten ensemble unitedberlin den feinen Werner-Otto-Saal. Dessen Türen stehen offen für alle, die sich um offene Ohren bemühen. Unter dem knackigen Titel Russisches Roulette gibt es avancierte Musik, die zwischen 1950 und 2017 entstand.
Schön, Jurowskis konzentrierte Gestik aus der Nähe zu beobachten. Noch schöner, vier sehr verschiedene Kompositionen, alle klanglich höchst reizvoll, aus der Nähe zu hören.
Die 2. Kammersinfonie (1994) von Edison Denissow (1929-1996) ist voll von sirrenden, zitternden Kraftfeldern, in denen alles trillert, auch Trompete und Posaune; anfangs romantische Gesten des Cellos, am Schluss ein heftiger Schlussknall umspannen den weiten Raum dieser Musik.
Anton Safronovs „CHRONOS – … TRAUM (Ewiger Zorn der laufenden Zeit)“ von 2000/2017 klingt geradliniger, als der überladene Titel befürchten lässt. Nicht Triller, sondern Tonwiederholungen, ausgehend von zwei Violinen, treiben die Musik voran. Aber was heißt schon voran in einer Klangwelt, wo U(h)rvater Chronos die Zeittreppe krumm tritt? Safronovs Stück ruft den paradoxen Effekt eines vorwärtsrasenden Stillstands hervor, sehr eindrucksvoll, ein wenig wie patterns eines Minimalisten, dem es die tonale Laune verhagelt hat. Später pendelt Chronos zwischen zwei Tönen hin und her, und man fragt sich, wie man aus dieser Zeitblase je wieder herauskommen soll. Statt eines Aufstands durch Chronos‘ göttliche Kinder gibt es ein etwas unbefriedigendes Fadeout.
Der 1972 geborene Safronov, der an der UdK unterrichtet, gehörte in Russland zu einem neuen Mächtigen Häuflein, das sich auf Englisch Structural Resistence Group, abgekürzt StRes, und auf Russisch CoMa nannte. Zu ihr gehörte auch, bis zu seinem furchtbar vorzeitigen Tod vor vier Jahren, der 1984 geborene Georgy Dorokhov, der eine Vorliebe für Instrumente aus dem Baumarkt hatte.
In Dorokhovs Adagio molto (2008) ertönen jedoch keine Bohrmaschinen und Äxte, sondern ein Cello. Oder ertönt eben nicht: Die Cellistin Lea Rahel Bader streichelt zunächst mit Hand und Bogen den Korpus ihres Instruments. Das würde noch intensiver (nicht) klingen, wenn die Lüftung im Werner-Otto-Saal nicht so laut wäre. Fünf Bläser respondieren, großteils tonlos blasend, ein skelettiertes Solokonzert.
Der Ansatz kommt einem zwar weniger irritierend als recht vertraut vor; man fragt sich, ob nicht ein Komponist mal in Auseinandersetzung mit Lachenmann ein Cellostück schreiben könnte, das nur auf dem Stachel gespielt wird. Aber Dorokhovs Stück ist, auch durch den Assoziationsräume öffnenden Titel, auf eine komprimierte Weise emotional. Ja sogar zärtlich: Wer könnte ungerührt bleiben, wenn die Cellistin ihr Instrument derart liebkost und schließlich sogar hochhebt, um zephyrisch sanft in seine f-Löcher zu pusten?
Hier in memoriam Dorokhov eine zeitgemäße Violinromanze aus der Stahlfeder des Komponisten:
Gern würde man Galina Ustwolskajas Oktett für 2 Oboen, 4 Violinen, Pauken und Klavier (1950, UA 1970) ohne Umbaupause und Klatscherei direkt im Anschluss an Dorokhovs zart blasendes Adagio molto hören. Das Oktett beginnt für Ustwolskaja-Verhältnisse recht lieblich, und das Klavier tönt zwar perkussiv, aber nicht so gnadenvoll toddröhnend wie in späteren Werken dieser einzigartigen Komponistin. Doch natürlich härtet sich der Klang, während die Musik in Vierteln voranschreitet.
Frage an Experten: Kommen in irgendeinem Ustwolskaja-Werk punktierte Noten vor?
Nachtrag: Klares Ja. Danke an Walter Weidringer, Wien:
Das Oktett endet im heftigsten Kontrast, den man sich vorstellen kann: hier samtener Streicherklang, dort drei immer wiederkehrende Schläge der brutal monotonen Pauken. Die Pauke hat das letzte Wort. Gleich drei Kugeln also, russisches Roulette für Fortgeschrittene. Stalin lebte noch, als es komponiert (aber nicht aufgeführt) wurde.
Das ensemble unitedberlin ist wieder am 9. Juni zu hören, dann in der Elisabethkirche in Mitte.