Entnachtend

Klavierfreuden in Mendelssohn-Remise und Pianosalon Christophori, John Eliot Gardiner bei den Philharmonikern

Die kleinen Musikorte erholen sich – wie die freien Musiker – mühsamer von der langen Nacht der (wohl noch nicht beendeten) Pandemie, als es große Institutionen und begehrte Stars tun. Eine kleine Klavierrunde führte mich in der vergangenen Woche nordwärts in den Wedding, wo im Pianosalon Christophori an zwei Abenden die jungen Musiker Andrei Gologan und Florian Heinisch spielten, und tags zuvor in die feine Mendelssohn-Remise, unweit vom Gendarmenmarkt. Dort eröffnete gleichzeitig die große Elisabeth Leonskaja eine Schostakowitsch-Hommage, den lang geplanten und nun von kriegerischen Zeitläuften an den Rand des Heiklen geführten Programmschwerpunkt des Konzerthauses. Auf der breiten Freitreppe stimmt dort eine Menschenmenge gutgemeint, aber schwer erträglich ein von beschwingtem Moderator animiertes Lied für den Frieden an.

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Wiegemarschtanzend

Pablo Heras-Casado und das RSB spielen Debussy, de Falla, Bartók

Drei auf je eigene Weise tänzerischen Musiken stellt der spanische Dirigent Pablo Heras-Casado beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin kurzentschlossen die Berceuse héroïque voran, die Claude Debussy 1914 nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges komponierte: antrisches Wiegenlied, großes Crescendo und Generalpause, dann Trauermarsch. Ein eigenartiges Werk mit paradoxem Titel, aber der aktuellen Situation angemessen als Ausdruck eines gewissen Ratlosigkeit, des gleichzeitigen Drangs zum Sprechen und zum Verstummen. Und eine Ergänzung zu Vladimir Jurowskis Aufführung der ukrainischen Nationalhymne vor zehn Tagen. Dazu passt, dass Heras-Casado nicht viele Worte sagt wie Jurowski (sehr kluge, menschliche Worte), sondern nur: „Wir spielen das im Gedenken an die Ukraine.“ Beide Arten des Umgangs – die introvertierte wie die demonstrative – haben ihre Berechtigung.

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Ukrainisch-umarmend

rsb, Jurowski, Alban Gerhardt spielen Werbyzkyj, Rubinstein, Smirnow und Tschaikowsky

Bei Vladimir Jurowski wird aus einem klaren politischen Statement gleich eine musikalische Weiterbohrung: Denn auf die ukrainische Nationalhymne, mit der nach spontaner Programmänderung das Konzert in der Philharmonie beginnt, spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin noch ein weiteres Werk ihres Komponisten Mychajlo Werbyzkyj, die gut gearbeitete Sinfonische Ouvertüre D-Dur, schmissig wie ein Stück von Suppé. Vor allem aber ergeben sich atemberaubende, in der Mitte geradezu verstörende Bezüge zum planmäßigen Rest des Programms, auf dem drei höchst unterschiedliche Werke russischer Komponisten stehen.

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Miese beflügelnd!

Ton Koopman beim Konzerthausorchester

So miese kann’s einem gar nicht gehen, dass einem durch Carl Philipp Emanuel Bach nicht neuer Esprit injiziert würde. Und durch die beflügelnd vitale Erscheinung von Ton Koopman, dem schon 77jährigen niederländischen Cembal- und Organisten und auch Dirigenten, der beim Konzerthausorchester unter anderem zwei CPE-Sinfonien aus der späten Hamburger Zeit im Programm hat. Die bekanntere ist die in D-Dur (Wq 183/1), eine der originellsten, überraschungsbombigsten überhaupt. Und auch wenn man sich in den Abschnittsbeginnen des ersten Satzes die Kontraste noch unverschämter geschärft vorstellen könnte, flutschen doch die Streicher famos und die Holzfarben leuchten mit schöner Kontur.

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Kramsreif

Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, András Schiff spielen Brahms und Josef Suk

Von der Inspiration zum Repertoirewerk (Symbolbild)

Kirill Petrenko setzt bei den Philharmonikern seine Reihe Brahms plus Krams fort. Wobei mich vor allem der Krams reizt. Aber dem vorhergehenden 2. Klavierkonzert von Brahms mit András Schiff (ein Repertoire-Programmpunkt, der narrensicher für volles Haus auch für die folgende Ultra-Rarität sorgt) kann ich mehr abgewinnen als der zweiten Sinfonie im Januar, die mich nicht vollends überzeugte. Schiff ist hier natürlich eine Bank, auch wenn er so viel mehr gelehrt als instinktiv klingt. Vor kurzem brachte er eine der interessantesten Einspielungen der beiden Brahmskonzerte heraus, die es gibt, auf einem Blüthner gespielt.

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Entgelsend

Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko spielen Zimmermann, Lutosławski, Brahms

Komponist und Sparkasse Gelsenkirchen (Symbolbild)

Beim gerade stattgefundenen Ultraschall-Festival für neue Musik fragte ich mich, welches der dort gehörten Orchesterstücke wohl in einem „normalen“ Sinfoniekonzert anginge (und fand im Eröffnungskonzert ziemlich viel). Anlässlich des aktuellen Berliner Philharmoniker-Konzerts weist Malte Krasting zurecht darauf hin, dass ein vor 50 Jahren teils gemobbter Komponist wie Bernd Alois Zimmermann heute viel mehr gespielt wird als etwa der Avantgarde-Bully Stockhausen. Und man könnte ergänzen, dass auch mehr Menschen Zimmermann hören wollen, oder zumindest zu hören bereit sind. Photoptosis von 1968, mit dem Kirill Petrenko und die Philharmoniker beginnen, ist ein klarer Fall von Hören-Wollen.

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Traumgärtnernd

RSB, Vladimir Jurowski und Seong-Jin Cho spielen Schumann, Firssowa, Schostakowitsch

Nanu, was macht denn der Schumann hier? Wie der Pontius ins Credo scheint das Klavierkonzert in dieses Programm geraten. Freilich, die Gelegenheit zu einem gemeinsamen Auftritt mit dem jungen Pianisten Seong-Jin Cho hat man offensichtlich beim Berliner Schopf gepackt. Cho gewann 2015 als 21jähriger den Chopinwettbewerb, nahm seither mindestens sechs Alben auf, scheint in Korea irre populär (die Philharmonie ist voll von jungen Landsleuten, die alle wie Musikstudierende wirken), und er lebt überdies hier in dem mit Seoul verglichen vermutlich arg beschaulichen Spreekaff. Hell ist sein Klang bei Schumann, ausgesprochen schön, sehr friedlich. Das kann man hochpoetisch finden oder ein wenig spannungsarm. Allzu schnell ist allerdings mancher Landsmensch meinerseits noch mit dem schaurigen Urteil bei der Hand, einem asiatischen Pianisten (so direkt spricht man das meist nicht aus, aber meint es doch) fehle die Tiefe für deutsche Romantik. Was für ein anmaßender Unfug. Und ein Fall, um sich besser mal zwickizwacki bei den eigenen Ohren zu packen und dem jungen, liebevoll klanggärtnernden Cho weiter zuzuhören, wohin die pianistische Reise des Hochbegabten gehen wird.

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Vertikal lustvoll

Staatskapelle mit James Gaffigan spielt Janáček, Eötvös, Ravel im Boulezsaal

Porträt des großen Altzausels als Jungzausel: Leóš Janáček 1874

Alles sehr kiezig heute: James Gaffigan, Dirigent dieses feinen Sonntagvormittagskonzerts im Pierre-Boulez-Saal, wird nächstes Jahr Chef an der 700 Meter entfernten Komischen Oper. Vom Komponisten Peter Eötvös, dessen Werk in der Programmmitte steht, lief an der gleich nebenan gelegenen Staatsoper Unter den Linden kürzlich das neue Werk Sleepless (gemischte Eindrücke bei mir). Und von Leoš Janáček, mit dem es losgeht, gibt’s ebendort demnächst Die Sache Makropulos. (Falls nicht alle Beteiligten dann mit Omikron in der Zwangsheia fläzen werden, von Emilia Marty über Ellian McGregor bis Eugenia Montez).

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Bescherlich

Frohe Musikbotschaften mit Staatsopern-Lohengrin, Mehta/Mahler und Prokofjews Cinderella beim RSB

„Geschenke, Geschenke / Sind daran, wo ich denke“, wie meine jüngeren Kinder zur Weihnachtszeit gern singen. Einer Bescherung gleich kommt es dem Berliner vor, dass seine Kulturinstitutionen im erneuten Pandemiewinter unseres Missvergnügens überhaupt noch offen sind und über den Jahreswechsel bleiben werden, wenngleich unter strengen Auflagen. Darum verpackt der Konzertbesucher – statt Geschenken – gern sich selbst, mit korrekt getragener Maske, Test & Booster-Impfung. Und beschenkt fühlt er sich etwa (obwohl die Karten nicht gerade spottbillig sind), wenn Zubin Mehta bei den Berliner Philharmonikern Gustav Mahlers 3. Sinfonie dirigiert.

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Schattengrell

Andris Nelsons, Håkan Hardenberger und die Berliner Philharmoniker spielen Reinvere, Weinberg, Strawinsky

Nanu, was treibt Nannerl Mozart denn da? Wie ein unruhiger Lohengrin-Traum, mit ziephohen Streichern beginnt das Notturno Maria Anna, wach, im Nebenzimmer des lettischen estnischen Komponisten Jüri Reinvere, mit dem Andris Nelsons und die Berliner Philharmoniker ihr Konzert beginnen: Musik aus dem Schatten, aus dem Maria Anna Mozart laut Wikipedia nie heraustrat, aber schönerweise ohne etwelche Mozartelei, sondern von ganz eigener konzentrierter Schemenhaftigkeit.

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Goethetortig: RSB und Jurowski fausten

Franz Liszt serviert dem Konzertgänger Goethes Faust (Symbolbild)

Here we go again. Wien, Leipzig, Dresden sind schon dicht, München fast; aber in Berlin mit (noch) nicht ganz so schlimmer Lage wird erstmal weiter gespielt. Man fragt sich, wie lange wohl und darf ich das noch? Und geht doch halbwegs guten Gewissens, risikoreduziert durch Impfung und Test und FFP2-Maske, und überhaupt lieber auf Weihnachtsmärkte und Restaurants und Familienfeiern verzichtend als auf Konzerte und Theater. Ist so. Selbst wenn’s die komische Torte Faust-Sinfonie des Liszt Ferenc ist. Ist nämlich mit Rundfunk-Sinfonieorchester und Vladimir Jurowski. Mit denen droht (fast) alles interessant zu werden.

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Rosengeistig: Schubert und Berlioz mit FBO, Heras-Casado, Crebassa

Eine Bereicherung ist es, dass sich klassische Sinfonieorchester immer mal wieder in „historische“ Spielweisen zurückwagen (in Berlin macht das DSO es toll, früher öfter mit Roger Norrington, der jüngst seine Dirigentenkarriere beendete). Und ebenso, dass ehedeme Alte-Musik-Spezialensembles sich ins „romantische“ Repertoire vorwagen. Das Freiburger Barockorchester spielt auf seiner aktuellen Tour in Berlin, Köln, Freiburg und Baden-Baden Franz Schubert und Hector Berlioz. Weiß nicht, ob ich den beiden Komponisten schon je innerhalb eines und desselben Konzerts begegnet bin.

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Kurz und kryptisch* (7): RSB, Jurowski, Hope spielen Firssowa, Berg, Tschaikowsky

Heute ist Totensonntag, sagt Daniel Hope seine Zugabe an. Das Andante aus Erwin Schulhoffs Violinsonate von 1927 ist aber nicht nur hörenswert, weil der Komponist 1942 den Nazis zum Opfer fiel. Sondern auch, weil es einfach packende Violinmusik ist. Und natürlich auch aufgrund von Schulhoffs Nähe zu Alban Berg, dessen weltabschiedliches Violinkonzert Hope zuvor gespielt hat. Da klangen seine ersten „leeren“ Töne fast, als würde er gleich Fritz Kreisler spielen; aber dann wirft er sich mit Haut und Haar in diese Musik, ohne irgendwas zu glätten oder oberflächlich zu schwülsten.

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Jubiläsmiert: 75 Jahre DSO

Okay, zwei Jahre Pandemie (Sie werden davon gehört haben), aber mal anderes Thema: 75 Jahre DSO. Am Anfang hieß es RIAS-, dann Radio-, seit 1993 Deutsches Symphonie-Orchester. Zum Jubiläum gibt es trotz allem, was leider gerade ist, eine Art Festkonzert in der Philharmonie. Mit hohem Westalgie-Faktor, sogar Eberhard Diepchen ist da! (Er trägt FFP2, im Gegensatz zu amtierenden Senatoren, die mit „medizinischer Maske“ dasitzen wie arme Leut.) Im bunten Programm – dennoch bemerkenswert wenig gefällig, viel kaum Bekanntes – sind alle Westalliierten vertreten; sofern man Antonín Leopold Dvořák jetzt einfach mal als US-Ameříkáner durchgehen lässt.

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Mondsam: RSB, Francis, Sobotka mit Ravel, Szymanowski, Elgar

Sachliche Märchenonkel entfalten den nachdrücklichsten Erzählzauber. Der Brite Michael Francis ist so ein beinah unauffälliger, aber sehr genauer Dirigent, der nicht wildfuchtelnd zaubert, sondern zweckdienlich arbeitend Zauber entstehen lässt. Es ist aber auch ein feines, durchdachtes Programm, das das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin im Konzerthaus am Gendarmenmarkt spielt: mit Maurice Ravel, Karol Szymanowski und Edward Elgar.

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