Nachhallig: Brahms zum Zweiten

Brahms-Versteher*innen

Nachhalligkeitssiegel für die Brahms-Perspektiven des Deutschen Symphonie-Orchesters mit Robin Ticciati: Kommt man aus diesem und jenem Grund erst zwei Tage nach dem zweiten Konzert dazu, drüber zu schreiben, klingt und schwingt einem die Zweite Sinfonie D-Dur immer noch im Kopf. Das bestätigt den vortrefflichen Eindruck, den man schon Montagabend in der Philharmonie hatte. Auch und gerade, was die Koppelung mit zwei Stücken von Henri Dutilleux angeht.

Würde Brahms‘ Zweite Ticciati nicht (wie manchem Dirigenten) schwerer fallen als die Erste, fragte der Konzertgänger sich zuvor: diesmal nicht Schluchten aufreißen, sondern Abgründe andeuten, ohne sich die immense Schönheit entflutschen zu lassen?

Die Streicherbesetzung ist gegenüber der Aufführung der Ersten am Vortag um 50 Prozent erhöht. Das ist sympathisch undogmatisch, aber keinesfalls beliebig, wie Ticciatis genaue Ausführungen im Programmheft belegen – und wie es das Hören bestätigt. Es entsteht ein völlig anderes Klangbild, wirkt aber in sich ebenso rund und schlüssig.

Brahms-Steher (links unten)

Diese Brahms-Zweite ist dabei deutlich weniger harmlos als die der Wiener Philharmoniker mit Welser-Möst vor kurzem am Gendarmenmarkt. Es gibt mit enormen Zuspitzungen und Steigerungen hier Momente höchsten Umkämpftseins. Schärfer an der Kippe zum Chaotischen ist diese Aufführung auch ab und an, ganz gelegentlich verschlucken die Streicher die Holzbläser – aber dabei ist das hier so viel aufregender und emotional berührender! Und noch im grazioso des dritten Satzes ist etwas Ruheloses, wie es da auf sehr scharf geschliffenen Kufen dahinsaust – ohne doch die Grazie zu verlieren.

Der Konzertgänger kennt einige Frauen und Männer, die auch wegen der Ticciati-Optik ins Ticciati-Konzert gehen; sogar seine Tochter im Grundschulalter war schon in der Versuchung mitzukommen, seit sie mal ein nettes Ticciati-Porträt in der Küche herumlagen sah. Aber zumindest bei großen Sinfonien muss der Konzertgänger bei Ticciati die Augen schließen, weil die intensive Gestaltungsarbeit des Dirigenten so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Allerdings nicht, weil es Showdirigieren wäre oder „choreographierte Hörbefehle“ (wie Jan Brachmann es nennt, jedoch auf Currentzis bezogen). Das Hörerlebnis mit geschlossenen Augen, als subjektives Dunkelkonzert, spricht für sich.

Sind aber die Celli im zweiten Satz nicht über Gebühr gepusht? Oder liegt der Eindruck am zauberhaften cellesken Vorhall dieses Brahms? Vierzig Minuten drehen sich um dieses Instrument. Und Nicolas Altstaedt um-, über- und unterdreht bewundernswert den Klang seines römischen Gigli-Cellos von 1770, das *Ergänzung: gar kein Gigli ist (siehe Kommentare) und* bemerkenswert kleiner ist als seine Verwandten im DSO. Die indeciso-Suche in Henri Dutilleux‘ Solo-Stück Trois strophes sur le nom de Sacher (1976/82) hat bei Altstaedt nichts ätherisch Verhangenes: Fast ungestüm legt er los, manchmal tänzerisch. Zwischendurch schiebt er hastig den Ärmel über der Bogenhand hoch. Und gerade wenn man sich fragt, ob das in seiner Brillanz nicht allzu kraftstrotzend sein könnte (oder Altstaedt angesäuert von den penetranten Hustenlümmeln im Saal?), kommen solche ganz fernen Flötentöne hervor, die keine Sehnwünsche offen lassen.

Brahms-Verbeuger

In Dutilleux‘ Tout un monde lointain… (1967-70) interpretiert der Dirigent erstmal einen Moment Stille, ehe es auf Becken und Schlagzeug zärtlichst zu wispern beginnt. Bringen Stille und Wispern das folgende Cello-Thema hervor, oder hat das Sacher-Cello zuvor erst Stille und Wispern erschaffen?

Die Farbigkeit des DSO ist so facettenreich und Altstaedts Spiel so nuanciert und lebendig, dass man dem halbstündigen Stück gebannt folgt, auch wenn man die Variationsvorgänge nicht recht durchdringt. Die Instrumente des Orchesters gleichen ständig sich verändernden, schillernden Folien, die den Klang des meist zarten, gar nicht auftrumpfenden Solo-Instruments immer anders beleuchten, bis in sehnende Tristanpassagen und eine fast unerwartete, „hymnische“ Eruption im letzten Teil, eine Ekstase voller Güte, Wärme, ja Liebe. Und man zweifelt nicht, dass die Musik von Dutilleux zum Gütigsten, Wärmsten, Liebevollsten des 20. Jahrhunderts gehört.

Die Zugabe (irgendein Gambenduo von Marais vielleicht?) spielt Altstaedt mit Barockbogen und gemeinsam mit Mischa Meyer, der beweist, dass ein Orchestercello eben auch keine Dicke Berta ist, sondern mit Altstaedts Instrument aufs Baröckste zu harmonieren versteht.

Und wieder sitzt der alterslos scheinende Aribert Reimann im Publikum! Gesundheit und Freude ihm, der so oft in Berliner Konzertsälen und Opernhäusern zu treffen ist! Ein Stück von Reimann steht am Samstag auf dem Programm, im letzten Konzert der Brahms-Perspektiven. Aber bestimmt wird er auch am Freitag da sein, wenn Brahms auf Wagner und Debussy trifft. Und eine Zwischenperspektive gibts noch am heutigen Mittwoch, da gibt Altstaedt mit DSO-Musikern ein Kammerkonzert in der Staatsbibliothek Unter den Linden.

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5 Gedanken zu „Nachhallig: Brahms zum Zweiten

  1. Die Zugabe war von Jean Baptiste Barriere, aus einer der Sonaten für zwei Celli. Woher ich das weiss? Ich habe Mischa Meyer gestern abend danach gefragt. Er hatte vor Jahren mal ähnlich, als Zugabe nach seinen Solokonzert, eine solche Zugabe mit Unterstützung durch Orchesterkollegen gegeben (anderer Barock-Komponist).

  2. Auch wenn ich mir ein Leben ohne Brahms durchaus vorstellen kann,
    geb ich mir die aktuell verordente Dosis an Brahms, und muss sagen:
    das macht gerade wirklich Spass mit dem DSO.
    Auf Samstag freu ich mich richtig, liegt aber auch an Bezuidenhout.

    Das Konzert vom Montag lässt sich übrigens Sonntag abend, 20:00h, auf https://www.deutschlandfunkkultur.de nachhören.

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