Entstrickend: Brahms zum Ersten

Brahms-Versteher (1)

Ein besonderer, und nicht der geringste, Reiz an der Reihe Brahms-Perspektiven des Deutschen Symphonie-Orchesters sind die raffinierten Programmkonstruktionen rund um die vier Sinfonien. Nur der Vorlauf zur 1. Sinfonie wäre mit Robert Schumann (und Igor Levit) fast standardiger als die Wiener Originalithäts-Policey erlaubt – gäbe es nicht zuvor eine exquisite Heinrich Schütz-Psalmodie mit dem RIAS Kammerchor. Erfreulicherweise wird sich aber zeigen, dass der Abend selbst ohne diese originelle (und sehr willkommene) Prä-Exquise, allein mit SchuBra, imposant wäre. Für den Konzertgänger wirds das beste Konzert, das er bisher mit dem DSO-Chef Robin Ticciati erlebt hat.

Denn, Hand aufs Herz, ein oder das andere Ticciati-Erlebnis war für ihn bisher eher ernüchternd. Nicht weil Ticciati unmusikalisch oder unangenehm wäre, sondern weil er manchmal überambitioniert, überdruckvoll wirkte, allzu forciert auf das ganz, ganz Besondere. Unfrei. Was sich musikalisch gelegentlich wie, mit Nestroy gesprochen, Beklemmung mit Entzündung anfühlen kann.

Aber vielleicht passt so eine Beklemmung mit Entzündung ja ganz gut, um an Brahms‘ Erste heranzukommen, angefühls dessen jahrzehntelanger Vorsinfonieskrupel (von wegen dieser Beethoven-Riesen-Schritte im Rücken und der erdrosselnden Schumann-Vorschusslorbeeren für das hübsche junge Genie).

Brahms-Versteher (2)

Ticciatis hohe Ambitionen zeigen sich im Brahmszyklus nun unter anderem in dem Konzept, jedes Konzert mit einem spezifischen, gleichsam puren Klang beginnen zu lassen. Hier ist es der Chorklang: Und weil Heinrich Schütz‘ fünfstimmige Motette über den Psalm 116 „Das ist mir lieb“ (vor 1623) beim von Fabian Enders einstudierten RIAS Kammerchor in guten Händen und Kehlen ist, geht die Sache auf. Die Klarheit und Präzision, der man danach im Instrumentalen begegnen wird, zeichnet dieses 6-teilige A cappella aus, dessen Kern der Satz Ich glaube, darum rede ich zu sein scheint. Diese tönende Bewegung von Wort und Herz ist hier ganz recht am Platz: Wenn die Stimmen zwischen Zagen und Hass pendeln, lernt man von Schütz und dem Psalmodisten viel über die menschliche Seele. Die Stricke des Todes umfangen auch das Ohr, aber beim Gedanken ans entstrickende so hilft er mir schichten sich die Stimmen betörend auf. Das Einkehren der Ruhe in die Seele im vierten Teil ist von so kunstvoller Wimmeligkeit, dass man begreift, dass wahre Zufriedenheit eben nichts Einfältiges ist. Und der konzise flow in den letzten Halleluja-Rufen ist wirklich Maximal Music.

Das Niveau hält im Folgenden.

Brahms-Versteher (3)

Mag Robert Schumanns Klavierkonzert a-Moll (1841/45) gern „das romantischste aller Klavierkonzerte“ genannt werden, so gilt Igor Levit vielleicht nicht als der romantischste aller Pianisten. Aber das ist hier kein Nachteil, denn das Übereinkommen von Levit und Ticciati, und beider mit Schumann, scheint vorzüglich. Ein heller, fast hastiger Ton zeichnet den Kopfsatz aus, aber keinesfalls hektisch oder gar ungenau – im Gegenteil. Silbrig statt seufzend ist das, jeder tiefe Ton im Orchester wird zum Ereignis, und Levits träumerische Passagen entfalten sich diskret und ironisch Richtung Unendlichkeit. Die Präzision des Pianisten in den zum Huschen einladenden oder auch leicht ins Dröhnende kippenden Passagen (sowohl im Kopfsatz als auch die quirligen Läufe im Finale) sind ein Traum. Das Orchester ist sensibel, auch witzig, etwa wenn sich im Intermezzo die Streicher spreizen und strecken.

Brahms? Who the fuck is Brahms? It’s Alkan, baby!

Höchstens mag man einwenden, dass in diesem taghellen Schumann jeder Winkel so perfekt ausgeleuchtet ist, dass er etwas geheimnislos werden könnte. Dafür ist dann aber Levits Zugabe derart sinister und fahllichtig, dass einem angst und bange wird: Charles-Valentin Alkans Gesang der Wahnsinnigen am Meeresgestade (La chanson de la folle au bord de la mer, Opus 31/8) sollte man besser nicht hören, wenn man nachts allein zuhause ist. Denn diese 150 shades of Brummen im Bass in Verbund mit dem glasäugigen Diskantgesang könnte einen gruselschlotternd aus dem Fenster treiben – spätestens bei diesem einen heftigen dynamischen Ausbruch.

Die Brahms-Sinfonien will Ticciati sich in unterschiedlichen Besetzungsgrößen vornehmen. Brahms‘ 1. Sinfonie c-Moll (1862-76) ist in der wohl kleinstmöglichen zu hören, wie bei der Meininger Uraufführung, mit 10 ersten und 8 zweiten Geigen, je 6 Bratschen und Celli, 4 Kontrabässen. Ungewohnter Brahmsklang für ein großes Sinfonieorchester, teils fast Originalklang-Anmutung. Das blöde Wort schlank sei aber vermieden, denn das klänge nach leicht, und leicht ist hier nix. Die Meininger Besetzung bewährt sich schon am drängenden Beginn des ersten Satzes; und bei Ticciati herrscht tatsächlich äußerstes Drängen. Aber das Drängen bedrängt eben tatsächlich, statt den Hörer in Klangmasse zu ersäufen, in die man sich dann eben auch ersaufwillig reinlegen könnte wie in ein Wannenbad voller Schaum. Hier ist die Unerbittlichkeit auf die Spitze getrieben. O Gott, diese Schläge, dieses Zucken, dieses Kontrafagott. Diesen Kopfsatz möchte man auch nicht hören, wenn man allein zuhause ist oder der letzte Mensch auf Erden.

Wers vermag, wird auch allen und jeden kompositorischen Details und Entwicklungen genauestens folgen können in dieser Darbietung.

Brahms-Versteher (4)

Auch die Mittelsätze wirken nicht gerade erbittlich, wie es bei diesen sinfonischen „Intermezzi“ sonst manchmal der Fall ist. Die Schönheit des Andante sostenuto klingt wie der Beklemmung abgerungen, aber die Entzündung spürt man noch, etwa wenn die erste Geige zum Himmel steigt fast wie ein Hilferuf. Dass die kleine Streicherbesetzung das Holz stark macht, erfreut besonders im dritten Satz, der dennoch nicht sonderlich entspannt scheint. Der Klarinette fährt mitten im Wiegen der Schreck in die Glieder.

Wenn im Finale, das hier wirklich in allerhöchster Spannung beginnt, der große Wendepunkt eintritt, dann kommen die Hörner nicht als überflutender oder gar kitschiger Schönklang ins Spiel, sondern als Auftakt zu einer schließlich und endlich wahrhaft befreienden Entfesselung von Energie: atemberaubend noch immer, aber jetzt ohne Beklemmung, ohne Entzündung. Stricke des Todes hatten mich umfangen, hieß es im Psalm 116, aber ich rief an den Namen des Herren, und der hat meine Bande zerrissen.

Ein wirklich packendes Konzert. Montagabend gehts schon weiter mit den Brahms-Perspektiven. Die Latte ist hoch gelegt. Aber die Kombination von der so anders gearteten Brahms-Zwo und Henri Dutilleux ist auch verdammt reizvoll.

Weitere Kritik: Schlatz wie immer sehr lesenswert.

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Ein Gedanke zu „Entstrickend: Brahms zum Ersten

  1. Ich stimme weitgehend zu.
    Von Levit war ich doch sehr angetan.
    Mein Notizzettel war nach dem Konzert so voll wie nie.
    Ich sehe, Sie haben der Gegenüberstellung Schütz – Brahms mehr abgewinnen können. Den 4. Brahms-Satz haben wir scheinbar unterschiedlich gehört.
    Die 2. spare ich mir, ist nicht meine Lieblingssinfonie.

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