Brahms-Perspektiven zum Nullten

Schräger, lustiger, nerviger, ansteckender, am Ende umjubelter Aufgalopp zum Brahmsfestival des Deutschen Symphonie-Orchesters: Drei Ensembles verwursten die 3. Sinfonie zu einer „Klangpörformänz auf Basis von“. Statthaben tut die Chose im Weißenseer Theater im Delphi, dem Moka Efti aus der vielbekakelten Babylon Berlin-Serie, die auf mehreres Nachfragen hin ja doch nicht so dolle sein soll, so dass man vielleicht Lebenszeit gewonnen hat, wenn man sie verpasst hat. Wie stehts nun mit Gewinn und Verlust von Lebenszeit bei diesem Konzert?

Es steigere die Vorfreude auf die Aufführung der richtigen Sinfonien, mögen sogenannte puristische Hörer antworten. Wessen Geist sich im Plattenschrank zwischen den Brahms-Optionen Szell, Klemperer, Mackerras bewegt, für den ist hier Opting-out. Den Konzertgänger aber polarisierts zwischen Fremdschämen und Mitschwingen, wobei die Waage sich im Verlauf der Zeit (doppelte Länge einer herkömmlichen Brahms-Dritten) klar vom Schämen zum Schwingen neigt. Zwar gibt es Steine des Anstoßes genug: Da ist der Beginn mit einer zusammengekneteten Unanswered Question (eine ohnehin überstrapazierte Referenz, zuletzt verwurstet gehört in Brett Deans Pastoral Symphony beim RSB), die eher nach Max Richter als Charles Ives klingt; die Trompetenfrage wird vom Enigma zum Sounddesign. Da ist später Stampfstreichercombo mit wehenden Blondmähnen wie bei einem osteuropäischen ESC-Beitrag.

Aber dass man das Konzept mögen muss oder halt nicht, gilt ja auch für Brahms‘ Sinfonik.

Bald und ganz erheblich einnehmend ist dann eben doch die Tatsache, dass hier nicht nur grenzenloser Enthusiasmus am Werk ist, sondern auch unbedingte Ernsthaftigkeit und zum Dreieck potenziertes musikalisches Können: Federführend ist an diesem Abend das STEGREIF.orchester aus Musikern aller Hintergründe, die auswendig und ganz ohne Dirigent spielen und improvisieren, über freie Bearbeitungen sinfonischer Musik. Außerdem sind Musiker der jungen norddeutschen philharmonie und ein Sextett vom DSO dabei. Diese schöne Mischung aus (vogel)freier Szene, Staatsinstitutionsorchester und Jugendbrilliert ist als Projekt TRIKESTRA auf mehrere Jahre angelegt. Ein unbedingt zu begrüßender Austausch!

Was treiben die jungen Leute da?!?“

Zumal der Austausch der improvisierenden Performance mit Brahms trotz des ersten Schrecks hervorragend gelingt. Wie genau gearbeitet wurde, zeigt schon die Abmischung der f-as-f-Akkorde, die immer wieder zu hören sind – mal hier und mal dort, denn die Musiker sind ständig im Raum unterwegs; wie auch das Publikum herumwandeln und sich wundern und winden darf, wie es Lust hat. Die beschwingten Übergänge aus Best-of-Brahms-Gefilden in andere Evergreens der Musikgeschichte funktionieren blendend: Schönbergs Verklärte Nacht etwa (vom DSO-Sextett) oder die extrem coole Sieben-Ton-Nummer aus Ligetis Musica ricercata.

Wirklich mitreißend sind dann die improvisierten und solistischen Passagen, für die sich immer wieder weite Räume auftun: Da ist die grandiose Flötistin, auch mal gemeinsam mit Dr. Houdini’s Singender Säge; weitere Holzbläser treten dazu. Und da sind die umwerfenden Doppelsoli von Trompete und Posaune. Da kann man auch endlich mal den begeisterten Zwischenapplaus reinklatschen, den man sich in der Philharmonie leider immer verkneifen muss. Vom Mittanzen zu schweigen. Aber nur, wer mag. Denn man kann auch einfach in der Ecke sitzen und zuhören, ohne von Mitmachzwang belästigt zu werden.

Fazit: Yak … äh, yep!

Und auch der im Vor- und Nachgeplänkel etwas redselige und beklemmend gutgelaunte Hornist intoniert so prima, dass sogar die gute alte Tante Brahms versöhnt und zufrieden wär. Gewonnene Lebenszeit und -lust.

Mal sehen, was Brahms dann zum topseriösen Brahms-Zyklus des DSO mit Robin Ticciati sagen wird, der Sonntagabend beginnt!

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